Integrität, Transparenz und Nachhaltigkeit: Evaluationspraktiken neu denken
Nur die Spitze des Eisbergs: Fragt man Wissenschaftler*innen früher Karrierestufen (WfK) nach den Bereichen ihrer Arbeit, welche aktuell Beachtung finden, nennen sie vor allem Publikationen, Zitationen, Konferenzbeiträge und Drittmittel. Diese Tätigkeiten würden zurzeit eher nach Quantität statt Qualität evaluiert, eher nach der Anzahl an Publikationen und Konferenzbeiträgen statt nach ihrer Güte.
Um nachhaltige gesellschaftliche Veränderungen zu initiieren und zu begleiten, braucht es aber auch und insbesondere all jene Tätigkeiten und Werte, welche bisher noch nicht hinreichend anerkannt und evaluiert werden – ein Umstand, auf den auch Präsidentin Sylvia Heuchemer in ihrer Begrüßung der Workshop-Teilnehmenden hinwies. Tätigkeiten wie die Wissenschaftskommunikation oder die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft, aber auch Werte wie Transparenz, Integrität und nicht zuletzt Nachhaltigkeit gehören zu ebendiesen zwar von Wissenschaftler*innen häufig bereits integrierten, jedoch im Wissenschaftsbetrieb noch nicht genügend anerkannten Aspekten. Mit weitreichenden Folgen: Der tief verankerte Fokus auf akademische Exzellenz verhindert die Anerkennung gesellschaftlichen Engagements und nachhaltiger Modi der Zusammenarbeit mit außerhochschulischen Akteur*innen und somit ein holistisches Verständnis von wissenschaftlichem Einfluss.
In dem zweiten diesjährigen Fokusworkshop des K3 Karriereentwicklungsprogramms ging es um diese Diskrepanz zwischen dem Status quo akademischer Evaluationen und möglichen zukünftigen Entwicklungen in diesem Bereich. Prof. Dr. Laurens Hessels, Professor an der Universität Leiden und Wissenschaftler am Rathenau Instituut, stellte Strategien vor, welche strukturellen und individuellen Wandel vereinen – denn die nachhaltige Veränderung akademischer Evaluationspraktiken braucht beides, mutige und weitreichende strukturelle Umgestaltungen und die Offenheit und den Gestaltungswillen aller Wissenschaftler*innen.
Ein Beispiel für eine solche Veränderung ist die Implementation von GROW Gesprächen an der Universität Leiden. Das GROW Toolkit verschiebt den Fokus gewöhnlicher Mitarbeiter*innenentwicklungsgespräche von dem, was gemacht wurde, zur Frage, wie etwas gemacht wurde, vom Resultat zum Prozess, von Zahlen zu Beschreibungen, vom Individuum zum Team. Das GROW Toolkit liefert dafür eine ganze Reihe an Impulsen, wie etwa das Well-being Conversation Tool, welches Wissenschaftler*innen (WfK wie ihre Vorgesetzten) dazu einlädt, unter anderem ihr physisches und mentales Wohlergehen, die subjektive Sinnhaftigkeit ihrer Tätigkeiten und ihre Integration in ihre Institution zu reflektieren und sich mit Vorgesetzten darüber auszutauschen.
Die Verschiebung des Fokus vom Was zum Wie drückt sich auch in „narrativen CVs“ aus, die, verglichen mit tabellarischen Lebensläufen, mehr Platz für Kontext und Erklärung und damit auch für Beiträge und Einfluss jenseits von Publikationen usw. lassen. Die Coalition for Advancing Research Assessment (CoARA) hat sich mit ihrem „Agreement on Reforming Research Assessment“ zum Ziel gesetzt, wissenschaftliche Evaluationspraktiken neu zu denken. Knapp 800 Forschungsinstitutionen, Fachgesellschaften und Fördergeber haben sich im Rahmen von CoARA bisher bereiterklärt, die Prozesse und Kriterien neu zu bestimmen, anhand derer Forschung, Wissenschaftler*innen und Forschungsinstitutionen evaluiert werden.
Eine konsequente Umsetzung und Weiterentwicklung dieser Bemühungen auf den unterschiedlichen Organisationsebenen hätte weitreichende Folgen. Von der Stellenausschreibung über das Berufungsverfahren bis hin zur Denomination, vom Projektantrag bis hin zum Mitarbeiter*innenentwicklungsgespräch würde im Sinne einer nachhaltigen Transformation die ganze Vielfalt an Tätigkeiten, Fähigkeiten und Beiträgen zwischen Forschung und Praxis anerkannt und wertgeschätzt – und nicht nur die Spitze des Eisbergs.
November 2024