Vertical Indoor-Farming: Die Pflanzenproduktion der Zukunft
Wie kann die Menschheit auch in Zukunft mit nachhaltigen und frischen Lebensmitteln versorgt werden? Mit dieser Frage beschäftigt sich der neue Forschungsschwerpunkt „Vertical Indoor-Farming“ von Prof. Dr. Mohieddine Jelali vom Institut für Produktentwicklung und Konstruktionstechnik. Im Interview spricht er über die Technologie und die Ziele seiner neuen fachlichen Ausrichtung.
Prof. Jelali, was ist Vertical Indoor-Farming eigentlich?
Vertical Farming, auch Urban Farming oder Indoor-Farming genannt, basiert auf speziellen Hochhaus-Anbauflächen, in denen Pflanzen unabhängig von Sonnenstrahlung oder Bodenfruchtbarkeit in vertikal angeordneten Kultursystemen produziert werden können. Die Anbauflächen befinden sich dabei im Gegensatz zur traditionellen horizontalen Landwirtschaft in geschlossenen Gebäudestrukturen wie Containern, Hoch-, Lager- oder Gewächshäusern. Ein weiterer Unterschied ist, dass beim Indoor-Farming auf Erde verzichtet werden kann. Stattdessen werden die Wurzeln der Pflanzen in einem so genannten hydroponischen System mit Nährstoffen, Wasser und Sauerstoff besprüht. Das Sonnenlicht wird durch LED-Lichtquellen ersetzt. Sensoren für den pH-Wert, den Nährstoffgehalt, die Temperatur oder den CO2-Gehalt sowie Kamerasysteme ermöglichen es, das Wachstum und die pflanzliche Entwicklung in Echtzeit zu beobachten und kontinuierlich zu optimieren. Vertikal Indoor-Farming wird daher auch als Landwirtschaft mit kontrollierter Umgebung bezeichnet.
Welche Chancen bietet die Technologie?
Die vertikale Landwirtschaft ist meiner Meinung nach eine der zukunftsträchtigsten Technologien unserer Zeit und hat das Potenzial, eine Schlüsselrolle bei der Lösung des Trilemmas von Ernährung, Ressourcen und Umwelt zu spielen. Sie kann durch planbare, saison- und wetterunabhängige Ernten viel produktiver sein als der traditionelle Ackerbau. Zudem kann durch die hydroponischen Systeme bis zu 95% Wasser und durch die vertikale Anordnung bis zu 95% Fläche im Vergleich zur konventionellen Landwirtschaft eingespart werden. Da die Pflanzen besser kontrollierbar sind und sich in einer abgeschlossenen Struktur befinden, werden weniger Dünger und keine Pestizide benötigt. Unterm Strich ergeben sich also Chancen, die Umweltbelastung der Pflanzenproduktion zu reduzieren, sie resilienter zu gestalten und für kürzere Lieferketten zu sorgen und dadurch CO2 einzusparen.
Somit zahlt diese Technologie ganz erheblich auf die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen ein: Chance auf Verringerung der Armut, Chance zur Überwindung des Hungerproblems in der Welt, nachhaltige Bewirtschaftung von Wasser, Sicherung der lokalen Lebensmittelproduktion durch nachhaltige landwirtschaftliche Infrastruktur, Bekämpfung des Klimawandels und seiner Auswirkungen sowie Schutz und Förderung der nachhaltigen Nutzung terrestrischer – also sich auf der Erde befindender – Ökosysteme.
Welche Herausforderungen gibt es?
Die größte Herausforderung beim Pflanzenanbau in Vertical Indoor-Farmen ist die richtige Beleuchtung sowie Klimatisierung – diese Faktoren verbrauchen die meiste Energie. Für einen wirtschaftlichen Betrieb ist eine Lösung dieser Problematik essentiell, da die Branche durch die extrem hohen Energiekosten aktuell massiv gefährdet ist, insbesondere in Europa und speziell in Deutschland. Wir erleben jedoch gerade, dass die Energieeffizienz von LED-Beleuchtung und Klimatisierungssystemen permanent gesteigert wird – das lässt hoffen, dass der Energieverbrauch dieser Teilsysteme künftig deutlich sinken wird. Zudem entwickeln wir derzeit im Rahmen des Forschungsprojektes „Smarte Pflanze“ ein auf Künstlicher Intelligenz basierendes Beleuchtungssystem. Dieses soll für ein effizienteres Pflanzenwachstum sorgen und zusätzlich Energie einsparen.
Ergänzt oder ersetzt Vertical Indoor-Farming die traditionelle Landwirtschaft in Zukunft?
Teils ja, teils nein. Für seltene oder schwierig anzubauende Kräuter und Gewürzpflanzen wie Vanille, Pfeffer und Safran ist der vertikale Anbau sinnvoll. Zudem bietet er sich vor allem auch für manche Fruchtgemüse und Obstsorten an, etwa Paprika, Tomaten, Gurken und Erdbeeren. So kann die Bevölkerung künftig mit frischen und regionalen Lebensmitteln versorgt werden, während die kritische Ressource Wasser geschont wird und Emissionen durch Wegfall von Transporten minimiert werden. Für Grundnahrungsmittel wie Getreide, Mais, Reis oder Kartoffeln ist eine vertikale Indoor-Aufzucht zum einen technisch-wirtschaftlich (noch) nicht möglich, aber auch nicht erstrebenswert, da diese Pflanzen viel Fläche brauchen und für deren Anbau große Mengen an Biomasse nötig sind. Daher ist meiner Meinung nach eine hybride Landwirtschaft sinnvoll, also eine Kombination aus vertikalem und konventionellem Anbau – wobei sich der vertikale Indoor-Anbau auf urbane und stadtnahe Gebiete sowie freiwerdende Gebäude fokussieren könnte.
Welchen Beitrag zur Erforschung und Entwicklung von Vertical Infoor-Farming leistet Ihr neuer Forschungsschwerpunkt?
Wir entwickeln in einem interdisziplinären Team von mehreren Professor*innen, wissenschaftlichen Mitarbeitenden und Studierenden Demonstratoren und Referenzarchitekturen für Vertical Indoor-Farming mit zirkulierender Hydroponik, möglichst ohne Substrat sowie mit auf künstlicher Beleuchtung basierender Pflanzenbeleuchtung. Im Fokus stehen Erstanwendungen und produktnahe Prototypen für Obst und Fruchtgemüse, zum Beispiel Chilis oder Erdbeeren, nach einem modularen und skalierbaren Ansatz. Darüber hinaus entwickeln wir Technologien zur Überwachung und Automatisierung der Farming-Prozesse. Dabei werden Datenpunkte – also Messgrößen wie Licht-, Luft- und Wassertemperatur, pH-Wert, Luftfeuchtigkeit und Nährstoffe – genutzt, um den gesamten Wachstumszyklus der Pflanzen zu erfassen, zu verstehen sowie optimale Umgebungen zu schaffen und so die Erträge und die Qualität der Pflanzen zu steigern. Schließlich sollen (teil)autonome Robotersysteme für Bestäubung, Reifegraderkennung und Ernte der Früchte entwickelt werden. Diese Technologien wollen wir gemeinsam mit klein- und mittelständischen Unternehmen sowie mit Landwirt*innen und Landwirtschaftsverbänden erarbeiten.
Dezember 2023