Kunstwerk der Pogromnacht - Felix Nussbaums Rue Triste im Zentrum für verfolgte Künste in Solingen
Ergebnisse einer kunsttechnologischen Untersuchung am CICS offerieren den Blick auf ein unbekanntes Gemälde von Felix Nussbaum und ermöglichen die Umdatierung der Darstellung "Rue Triste" in das Jahr 1938.
Im Rahmen der Vorbereitungen einer Ausstellung über die Anfänge der documenta wurden zwei Kunstwerke aus der Sammlung der Bürgerstiftung für verfolgte Künste am Cologne Institute of Conservation Sciences (CICS) der Technischen Hochschule Köln im Rahmen eines Lehrforschungsprojektes kunsttechnologisch untersucht.
Bildergalerie
Felix Nussbaum, Trostlose Straße, um 1938/39, Öl auf Leinwand, 56 x 43 cm, Dauerleihgabe aus Privatbesitz (Bild: Zentrum für verfolgte Künste, Solingen)
Montage aus Fotografie und Röntgenaufnahme und des Gemäldes Trostlose Straße, um 90 Grad gedreht (Bild: TH Köln - CICS)
Felix Nussbaum, Die große Zerstörung, um 1939, lavierte Tusche auf Papier, 54,5 x 67 cm (Bild: Yad Vashem, Jerusalem)
Eines dieser Gemälde ist die „Trostlose Straße“ von Felix Nussbaum, das bisher auf das Jahr 1928 datiert wurde. Anlass für die kunsttechnologische Untersuchung geben lang gehegte Vermutungen zum Entstehungszusammenhang und zur Datierung des Werkes. Bereits mit bloßem Auge sind am Bildrand tieferliegende Farbschichten zu erkennen, die darauf deuten, dass sich unter der Darstellung ein früheres Gemälde Nussbaums befindet.
Mittels Röntgen- und Infrarotstrahlen wurde diese Vermutung bestätigt und weitere Erkenntnisse über die Werkgenese gewonnen, die eine Umdatierung des Gemäldes fordern, das Mitte 1942 vom im Exil lebenden Felix Nussbaum in einem Depot in der Brüsseler Avenue Brugman bei seinem Arzt Dr. Grosfils versteckt wurde. Ende der 1960er Jahre wird es von Auguste Moses-Nussbaum, der Cousine des Künstlers, wiederentdeckt und von der Erbengemeinschaft über die Galerie Hasenclever Mitte der 1970er Jahre in Privatbesitz verkauft. Seit 2008 wird es als Dauerleihgabe im Zentrum für verfolgte Künste in Solingen präsentiert.
Das Werkverzeichnis interpretiert das Bild „Trostlose Straße“ bisher als eine visionäre Todesahnung und datiert es auf 1928. In einem Artikel in der Zeitung Nieuwe Rotterdamsche Courrant wird über das Bild am 11. Februar 1939 als „Rue Triste“ erstmals geschrieben. Umfangreiche kunsttechnologische Untersuchungen geben nun Aufschluss über das Geheimnis um die Entstehung des Gemäldes. Mittels Röntgenstrahlen können tieferliegende Schichten für das menschliche Auge sichtbar gemacht werden. So ermöglicht uns die Röntgenaufnahme den Blick auf ein bisher unbekanntes Gemälde Felix Nussbaums, dessen Darstellung auf zwei Zeichnungen wiederzufinden ist. Anhand dieser Skizzen ist nun eine eindeutige Datierung sowohl der übermalten Darstellung als auch der „Rue triste“ möglich: Im Werkverzeichnis werden die Vorzeichnungen mit dem Kriegsbeginn 1939 in Polen in Verbindung gebracht. Das Gemälde „Rue triste“ kann folglich nicht vor 1938 entstanden sein. Ob die Zeichnungen als Vorstudien oder zur Dokumentation der übermalten Darstellung angefertigt wurden, kann aktuell nicht eindeutig geklärt werden.
Die Zeichnungen verbleiben nach der Deportation Nussbaums in seinem geheimen Brüsseler Atelier in der Rue Général Gratry. Im Jahr 1980 wird eine von Roger Katz in Erinnerung an seine in der Shoah ermordete Familie der Gedenkstätte Yad Vashem geschenkt. Die andere befindet sich im Jüdischen Museum Frankfurt. Beide haben den Not-Titel „Die große Zerstörung“. Nussbaum hat sie selbst neutral beschriftet mit „Fassung I“ und „Fassung II“. Das Bild unter der „Rue Triste“ entspricht eher der Zeichnung aus Yad Vashem, der „Fassung II“.
Das Apokalyptische der beiden Zeichnungen ist offensichtlich. Die Umgebung der Menschen ist eine Ruinenlandschaft. Sonne und Mond erscheinen gleichzeitig am Himmel. Aber ganz anders als in den Zeichnungen und Ölbildern aus den Jahren vor 1938 interagieren in diesen Zeichnungen und auch in dem übermalten Ölbild Menschengruppen miteinander. Die beiden Figuren am linken unteren Bildrand nehmen Kontakt mit den Betrachtenden auf. Die Figuren in der Bildmitte zeigen Trauer, Verlust aber auch Anteilnahme. Die Menschen im Torbogen auf der linken Seite sind stumme Beobachter. Ähnlich wie in seinen Historienbildern der Jahre 1942 und 1943 versucht er hier, seine Lebenswirklichkeit metaphorisch zu beschreiben und das ist nicht der Beginn des Zweiten Weltkriegs, sondern es sind die Pogrome am 9. November 1938 im Deutschen Reich.
Die Pogromnacht war für Felix Nussbaum ein tiefer Einschnitt. Er nennt sie in einem Brief ein „Teufelsbad“. Zum einen wird jetzt der jahrelange Terror und die Verfolgung der Juden in Deutschland auf die Straße getragen und zum anderen verlassen die letzten Familienmitglieder die alte Heimat. 1937 hatte Nussbaum versucht, die Eltern nach Belgien zu holen. Jetzt fliehen Philipp und Rahel Nussbaum unmittelbar nach der Pogromnacht von Köln nach Amsterdam. Nach dem erzwungenen Verkauf der Firma Gossels & Nussbaum in Osnabrück im Frühjahr 1933 ist diese erneute Flucht der Eltern ein vorläufiger Höhepunkt der Verfolgung und Erniedrigung.
Neben der Visualisierung der übermalten Darstellung treten weitere Spuren des Entstehungsprozesses hervor. Mittels Infrarotstrahlen können Pentimenti, also künstlereigene Überarbeitungen während des Malprozesses identifiziert werden. Das Gemälde zeigt eine Katze, die scheinbar grundlos aufgeschreckt auf der Straße Halt macht. Das Infrarotreflektogramm jedoch zeigt uns einen Schutthaufen, vor dem die Katze in Angriffsstellung geht. Auf der Infrarotaufnahme lässt sich erahnen, dass der Schutthaufen aus Fensterkreuzen und Glasscherben besteht. Er versperrt der Katze den Weg. Die nationalsozialistische Presse verharmloste die Pogromnacht 1938 als Kristallnacht. Hierfür kann der Schutthaufen aus zerstörten Fenstern ein Symbol sein.
Nun stellt sich die Frage, warum Felix Nussbaum jenes Bild übermalt, das er vermutlich mit zwei Vorzeichnungen prüfend konstruiert hatte. Warum malt er diese Straßenschlucht mit den Pestfahnen und der Katze?
Die „Rue Triste“ ähnelt städtebaulich der Osnabrücker Johannisstraße, der Straße seiner Kindheit und Jugend. Unweit der großen gotischen Johanniskirche befand sich in der Schlossstraße das Elternhaus und in unmittelbarer Nachbarschaft, in der Seminarstraße, lag der Hauptsitz der väterlichen Firma. Wäre es nicht möglich, in der „Rue Triste“ eine schmerzhafte Erinnerung an die Geburtsstadt zu sehen? Er übermalt ein Weltuntergangsszenario zur Pogromnacht mit einem schnellen Pinselstrich im Dezember 1938 für die Ausstellung im Februar 1939 und wird – ausgelöst durch die Nachrichten über den Terror, den die Eltern in Köln erleben mussten – persönlicher. Wahrscheinlich war der Auslöser für die beiden Zeichnungen und das übermalte Ölbild die Berichte über die brennenden Synagogen und der öffentliche Mord an den deutschen Juden. Die Nachrichten von der endgültigen Vertreibung seiner Familie veranlassten ihn, seine Bildidee radikal zu verwerfen. In diesem historischen Moment übermalt Felix Nussbaum die Apokalypse und rechnet mit seiner Geburtsstadt, mit Deutschland, ab und hält in seinem Bild einen menschenleeren, toten, tristen Ort der Vergangenheit fest.
Das Bild „Rue Triste“ und die Forschungsergebnisse werden ab 6. Mai 2022 in der aktuellen Ausstellung des Zentrums für verfolgte Künste gezeigt:
„1929/1955. Die erste documenta und das Vergessen einer Künstler:innengeneration“, ein gemeinsames Forschungs- und Ausstellungsprojekt des Zentrums für verfolgte Künste mit dem documenta archiv Kassel.
Juni 2022