Was Kindern in Krisenzeiten hilft

 Prof. Dr. Sefik Tagay  (Bild: Heike Fischer/TH Köln)

Krisen sind aktuell allgegenwärtig – und sind für Kinder und Jugendliche in vielen Fällen besonders belastend. Deshalb ist es wichtig, junge Menschen in Ausnahmesituationen umfassend zu unterstützen. Wie das gelingen kann und worauf es bei der Bewältigung von Krisen ankommt, berichtet Prof. Dr. Sefik Tagay vom Institut für Geschlechterstudien im Interview.

Prof. Tagay, was machen Krisen mit Kindern und Jugendlichen?

Seit Beginn der COVID-19-Pandemie befinden wir uns in einer Aneinanderreihung von multiplen globalen Krisen, zum Beispiel die zunehmenden Naturkatastrophen verursacht durch den Klimawandel, der Ukrainekrieg mit vielen weiteren Konfliktregionen und politischen Umwälzungen weltweit oder die Energie- und Inflationskrise. Wir haben eine Generation der Krisenkinder. Wenn Menschen – vor allem Kinder und Jugendliche – dauerhaft mit Krisen konfrontiert werden, erhöht sich das Risiko stark, dass sie vielfach Erfahrungen von Kontrollverlust, Angst und Hilfslosigkeit machen. Diese können neben weiteren Entwicklungsrisiken wie Disharmonie in der Familie, Armut und Arbeitslosigkeit der Eltern, aber auch psychosoziale Belastungen und Traumata wie Gewalt und Misshandlung bei Kindern und Jugendlichen mit einer schlechteren körperlichen und psychischen Gesundheit einhergehen. Zu diesem Wechselwirkungsprozess gibt es inzwischen vielfach empirische Evidenz. In Abhängigkeit von Risiko- und Schutzfaktoren müssen Krisen aber nicht immer negativ sein, Kinder und Jugendliche können daraus auch wachsen beziehungsweise mehr Resilienz, also Widerstandskraft, entwickeln.

Was ist für die Bewältigung von Krisen notwendig?

Eine erfolgreiche Bewältigung von Krisen ist das Ergebnis einer komplexen Wechselwirkung von Risiko- und Schutzfaktoren. Die Psychologie unterscheidet zwischen drei Ebenen von Ressourcen, die die Resilienz des Individuums aufrechterhalten beziehungsweise fördern können. Erstens, personale Ressourcen: Darunter fallen beispielsweise die sozial-emotionale Kompetenz, das Selbstwirksamkeitserleben, positive Selbstwahrnehmung oder ein positives Temperament. Zweitens spielen soziale Ressourcen eine große Rolle. Die Familie ist die zentrale Sozialisationsinstanz für Kinder und Jugendliche. Im Sinne von Risiko- und Schutzfaktoren kann sie sehr förderlich aber auch gefährlich für die Entwicklung sein. Stabile und emotional-warme Bindungen sind die stärksten Prädiktoren für eine gesunde und resiliente Entwicklung von Kindern. Die dritte Ebene stellen strukturelle Ressourcen dar. Darunter fallen psycho-soziale Einrichtungen und weitere Sozialisationsinstanzen, wie Kitas und Schulen. Diese können Familien bei Anforderungen und Überforderung von Entwicklungsrisiken unterstützen. Grundsätzlich gilt: Je größer der Anteil der Risiken ist und je weniger personale, soziale und strukturelle Ressourcen vorhanden sind, desto schwieriger ist die Bewältigung von Anforderungen.

Was bedeutet die Energiekrise für Familien?

Es gibt privilegierte, gut situierte Familien, die keine großen Einschränkungen befürchten müssen. Viele Familien befinden sich aber in einer prekären finanziellen Lage oder leben am Rande des Existenzminiums und machen sich zurecht massive Sorgen. Sie werden um ein Vielfaches mehr ans Belastungen haben, was sich auf das Miteinander und die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen langfristig auswirkt. Bei ihnen kommen ohnehin schon mehrere Risikofaktoren zusammen und nun zusätzlich noch diese negativen Veränderungen. Je nach familiärer Situation kommen multiple Risiko- und Schutzfaktoren zusammen, die die Anforderung und Bewältigungskompetenzen von Kindern und Jugendlichen beanspruchen.

Welche Konsequenzen kann eine dauerhafte globale Krisensituation haben?

Eine permanente Krisensituation bedeutet chronisch anhaltender Stress, der ein negativer Faktor für die Entwicklung der Gesundheit ist. Die COVID-19-Pandemie ist ein Beispiel dafür. Je länger und unkontrollierbarer der Stress erlebt wird, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass dieser sich negativ auf die vier universellen psychischen Grundbedürfnisse der Menschen auswirkt. Dazu zählen zum einen das Bedürfnis nach sozialen Bindungen, wie Streben nach Schutz, Sicherheit und Trost oder das Bedürfnis nach Nähe zu einer Bezugsperson. Lustgewinn und Unlustvermeidung sind das zweite Grundbedürfnis, wie zum Beispiel das hedonistische Bedürfnis nach Freude, Genuss und lustvollen Erfahrungen. Als drittes ist der Selbstwertschutz zu nennen, das Bedürfnis nach einer wertschätzenden und unterstützenden Umgebung oder das Bedürfnis, sich selbst als gut, kompetent, wertvoll und von anderen geliebt zu fühlen. Orientierung und Kontrolle bilden den vierten Aspekt, also das Bedürfnis nach Voraussehbarkeit, Handlungsalternativen und Kontrolle. Diese vier Grundbedürfnisse sind unser Leben lang elementar für eine gute Lebensqualität. Kommt es zur dauerhaften Verletzung dieser Bedürfnisse, sind die Folgen vielfältig und gehen negativ mit Gesundheit einher.

Wie können Kinder und Jugendliche beim Umgang mit Krisen unterstützt werden?

Für sie sind positive familiäre Beziehungen sowie ein emotional warmes, aber auch klar strukturiertes Erziehungsverhalten zentral. Da sie auf ihre Bezugspersonen angewiesen sind, kommt es darauf an, wie diese mit Krisen umgehen und sie kommunizieren. Können Eltern die Ängste, Sorgen und Unsicherheiten auffangen? Darüber hinaus ist es wichtig, wie andere Sozialisationsinstanzen – beispielweise Schulen – damit umgehen, zum Beispiel, ob Lehrkräfte dem Ukrainekrieg Raum geben, dass die Schüler*innen darüber sprechen und was sie beschäftigt. Die Politik und soziale Einrichtungen müssen ebenfalls Angebote schaffen – gerade für Familien in prekären Situationen. Letztlich ist es notwendig, dass sich alle Sozialisationsinstanzen mit Fragen beschäftigen, wie wir die Ängste, Sorgen und Belastungen von Kindern im Hinblick auf Krisen auffangen und wie wir mehr Resilienz bei Kindern und Jugendlichen entwickeln können.

Oktober 2022

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