Was die Kindergrundsicherung kann

In Deutschland ist jedes fünfte Kind von Armut betroffen. Abhilfe soll die geplante Kindergrundsicherung schaffen. Prof. Dr. Ragnar Hoenig vom Institut für Soziales Recht spricht im Interview über die Hintergründe, den Mehrwert und mögliche Komplikationen.

Porträt Ragnar Hönig Prof. Dr. Ragnar Hönig (Bild: privat)

Welche Gedanken stecken hinter der geplanten Kindergrundsicherung?

Derzeit gibt es einen Dschungel an familienpolitischen Leistungen, der es Familien mit Kindern erschwert, durchzublicken. Dadurch besteht die Gefahr, dass Leistungen nicht oder nicht rechtzeitig beantragt werden. Zudem geht es vielen Befürworter*innen um mehr Verteilungsgerechtigkeit. Sie argumentieren, dass Familien mit hohen Einkommen über unser progressives Steuersystem stärker profitieren als Familien mit niedrigen Einkommen. Das dritte Argument bezieht sich auf die Höhe der Regelsätze. Das Verfassungsgericht hat bereits eine kinderbedarfsbezogene Berechnung dieser gefordert. Viele Befürworter*innen meinen, mit der Kindergrundsicherung könnte dem kindlichen Existenzminimum besser Rechnung getragen und die Kinderarmut damit besser bekämpft werden.

Wie wird die Kindergrundsicherung umgesetzt?

Seit vielen Jahren werden verschiedene Optionen diskutiert. Im Koalitionsvertrag hat die Bundesregierung jetzt ein Zwei-Stufen-Modell vorgeschlagen. Die Kindergrundsicherung soll demnach aus einem einkommensunabhängigen Garantiebetrag und einem einkommensabhängigen Zusatzbeitrag bestehen. Es sind jedoch noch Fragen offen: Welche Leistungen sollen gebündelt werden? Wir haben beispielsweise aktuell das sogenannte Sozialgeld, das sich vor allem an Kinder von Arbeitslosengeld-II-Beziehenden richtet. Es gibt zudem einen Kinderzuschlag. Das wiederum ist eine Leistung für geringverdienende Eltern, die mit ihrem Einkommen ihr eigenes Existenzminimum sichern können, aber nicht mehr das ihrer Kinder. Oder das Kindergeld, das einerseits eine familienpolitische Leistung ist, jedoch andererseits auch im Steuerrecht verankert ist und somit eine Doppelfunktion hat, die seit Einführung in dieser Form kritisch diskutiert wird. Neben der Frage, welche Leistungen in der Kindergrundsicherung aufgehen sollen, stellt sich die Frage, wie die Einkommensanrechnung konkret ausgestaltet sein soll. Auch dies ist kein einfaches Thema.

Kann die Kindergrundsicherung die Kinderarmut bekämpfen?

Das Bundesverfassungsgericht hat vor etwas mehr als zehn Jahren zum ersten Mal festgehalten, dass es ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums gibt, auch wenn das Grundgesetz das so ausdrücklich nicht formuliert. Und da hat es, vor allem was die Bekämpfung von Kinderarmut angeht, sehr klare Vorgaben gemacht. Der Gesetzgeber muss einen Anspruch schaffen und soll dabei das physische und das soziale Existenzminimum gleichermaßen berücksichtigen. Es geht eben nicht nur um die Grundbedürfnisse wie Essen, Trinken, Wohnen und Kleidung, sondern ebenfalls um das Soziale und die Bildung. Auf der anderen Seite hat das Verfassungsgericht gesagt, dass die Höhe des Existenzminimums nicht im Grundgesetz verankert sei. Das sei eine Diskussion, die auf politischer Ebene geführt werden müsse. Der entscheidende Punkt aus der Rechtsprechung ist: Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Man darf die Kinderregelsätze also nicht einfach von denen der Erwachsenen ableiten, so wie es über Jahrzehnte gemacht wurde. Es wird sich zeigen, ob die Kindergrundsicherung das leisten kann.

Was sind denn die Vor- und Nachteile einer Kindergrundsicherung?

Ein unbestrittener Vorteil ist, dass das System aus familienpolitischen Leistungen durch die Bündelung für die Betroffenen einfacher und verständlicher wird. Auf der anderen Seite: Je stärker Leistungen zusammengefasst werden, desto weniger wird Einzelfallgerechtigkeit hergestellt. Das ist ein Spagat, den der Gesetzgeber vor sich hat.

Ein weiterer Vorteil ist, dass man bei der Berechnung der Beiträge die kinderspezifischen Bedarfe fokussiert. Damit ist allerdings nicht sicher, ob die Leistungen besser werden. Ich habe Sorge, dass die Verbände, die sich seit Jahren für bessere Leistungen einsetzen, mit dem Ergebnis nicht zufrieden sein werden. Mit dem Begriff Kindergrundsicherung darf keine leere Schachtel in ein Schaufenster gestellt werden, die dann mit Inhalten gefüllt wird, die sich so alle gar nicht vorgestellt haben. An dieser Stelle möchte ich an die Diskussion von Hartz-IV erinnern. Damals bestand Einigkeit darüber, dass es sinnvoll ist, aus dem Pluralismus Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe für Erwerbsfähige, eine einheitliche Leistung zu schaffen. Das, was wir erhalten haben, war Hartz-IV – was seither kritisch diskutiert wird und vom Bundesverfassungsgericht in mehreren Punkten für grundgesetzwidrig erklärt wurde.

Mai 2022

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