Virtuelle Realität für das Ohr
Was versteht man unter einer „Perzeptiv motivierten, parametrischen Synthese binauraler Raumimpulsantworten“? Alumnus Dr. Philipp Stade hat über dieses Thema promoviert und seine Disertation „magna cum laude“ verteidigt. Womit sich der Akustiker fünf Jahre beschäftigt und was er bei der sogenannten Auralisation herausgefunden hat, erklärt er im Interview.
Meinen Freunden und der Familie erkläre ich meine Arbeit …
... mit der klassischen Handbewegung eines Akustikers: Ich klatsche in die Hände und sage: „Das hier ist der Nachhall, der charakterisiert den Klang eines Raumes.“ Dann sage ich: „Du kennst doch bestimmt die hippen Video-Brillen, mit denen du dich virtuell in eine neue Situation zum Beispiel in eine Raumstation versetzen lassen kannst. Ich mache das Ganze aber nicht visuell, sondern auditiv, also für den Gehörsinn.“ Mit meiner Arbeit ist es möglich, sich über Kopfhörer virtuell in einen anderen Raum versetzen zu lassen. Ich kann beispielsweise einen Flamenco-Gitarristen oder die Stimme von Liz Taylor so vorspielen, als ob sich diese im jeweiligen Raum befinden. Und gleichzeitig, und das ist das Besondere, hast du als Zuhörer das Gefühl, in diesem Raum zu sein. Du kannst Deinen Kopf drehen und der Gitarrist bleibt weiterhin auf der Bühne stehen.“ Probiert man das nämlich mit dem mp3-Player, dreht sich das Schallfeld immer mit, obwohl das nicht der Realität entspricht. Wenn ich meine Arbeit jemandem erkläre, mache ich immer abschließend den Test und sage: „Drehe mal Deinen Kopf, wenn ich spreche! Fliege ich dann durch den Raum oder bleibe ich hier stehen?“ Und dann ist meist klar, was ich meine. Ich mache also eigentlich ganz natürliche Dinge, die man jeden Tag erlebt. Aber gerade da sie so selbstverständlich sind, sind einem die Zusammenhänge oft nicht bewusst.
Damit das System zur virtuellen Hörbarmachung,
Auralisation genannt, so funktioniert, brauche ich genau dieses Klatschen und die daraus resultierende sogenannte Raumimpulsantwort, die man ebenfalls messen kann. Das wird gerne als der „akustische Fingerabdruck“ eines Raumes bezeichnet, da hier nicht nur der Nachhall, sondern auch viele weitere Eigenschaften wie beispielsweise die Reflexionen enthalten sind, also Rückwürfe des Schalls an den Wänden. Der Mensch binaural, also – in der Regel – mit zwei Ohren. Aufgrund der Formgebung der Außenohren und der räumlichen Distanz entstehen so zwei leicht unterschiedliche Signale. Diese Unterschiede werden ausgewertet und verwendet um zum Beispiel eine Schallquelle zu orten. Binaurale Eigenschaften lassen sich ebenfalls messen und zwar mit einem sogenannten Kunstkopf. Unser Laborexemplar heißt „Norbert“. Dieses spezielle Mikrofon hat mich die ganzen Jahre begleitet, um sogenannte binaurale Raumimpulsantworten zu messen. Anschließend habe ich versucht diese Signale künstlich zu erzeugen, auf Basis einiger weniger Parameter. Die ganze Entwicklung wurde immer gesteuert von der menschlichen Wahrnehmung, denn was ich nicht höre, brauche ich auch nicht aufwändig zu synthetisieren. Und diese ganze Synthese hat dann doch erstaunlich gut funktioniert!
Am meisten interessiert hat mich dabei …
... die Einfachheit meiner Modelle. Ich habe versucht, den eben beschriebenen Raumeindruck möglichst simpel und mit wenig Aufwand zu reproduzieren. Ich hatte von Anfang an die Vermutung, dass man eigentlich nicht viel braucht, um einen Raum akustisch überzeugend wiederzugeben. Die physikalischen Zusammenhänge, die in einem Raum ablaufen, sind unglaublich komplex und teilweise sehr schwer vorhersehbar oder beschreibbar. Viele Variablen sind unbekannt und somit gibt es viele Unsicherheiten. Mich hat die ganze Zeit die folgende Frage vorangetrieben: „Ist diese Komplexität wirklich nötig? Oder braucht der Mensch vielleicht viel weniger Infos über einen Raum und kann trotzdem sagen `Hey, das klingt ja wirklich wie der Kölner Dom, mein Wohnzimmer oder die Elbphilharmonie!‘“
Meine Erkenntnisse sind wichtig, weil …
... es sich tatsächlich zeigte, dass der Mensch erstaunlich wenige Informationen über die Akustik eines Raumes benötigt. Selbst eine starke Reduzierung auf einige wenige Parameter erlaubt eine gute Abbildung des jeweiligen Raumes. Signaltheoretisch sind diese Daten komplett unterschiedlich im Vergleich zu einer richtigen Messung, aber trotzdem wird das auditive System zufriedengestellt. Diese Erkenntnis schafft neue Möglichkeiten, denn sobald ich eine akustische Situation parametrisch erzeugen kann, kann ich diese auch leicht verändern. So kann ich beliebige neue Situationen kreieren, was in Anwendungen zur virtuellen oder erweiterten Realität eingesetzt werden kann. Außerdem kann man auf Basis dieser Modelle weitere Wahrnehmungsuntersuchungen durchführen, da ich ganz gezielte akustische Situationen erzeugen kann, wodurch systematische Studien erst möglich werden.
Am Anfang meiner Promotion dachte ich …
... womit genau soll ich denn jetzt bitte anfangen? Damals hatte ich einen Kollegen, der bereits einige Zeit dabei war und schon voll im Thema steckte: Ich verstand zunächst gefühlt überhaupt nichts und konnte mir nicht vorstellen, diesen Weg irgendwann wirklich erfolgreich einzuschlagen. Aber ich wollte es trotzdem versuchen und es gab schließlich auch Unterstützer, die mich in dieser Rolle sahen. Als ich ins Thema startete, machte ich zunächst sicherlich auch viele Dinge, die jetzt rückwirkend gedacht unnötig, unnütz oder gar falsch waren. Aber so bekam ich Zugang zum Thema und der Frage: „Was will ich überhaupt untersuchen?“ Diese Frage hat recht viel Zeit beansprucht, denn die genaue Themenfindung einer Dissertation ist nicht trivial! Zwar gab es bereits zu Beginn einige Überlegungen, in welche Richtung meine Arbeit gehen könnte, wirklich konkret wurde es aber erst nach einem Jahr.
Jetzt, fünf Jahre später, …
... ist es erstaunlicherweise recht ähnlich gekommen wie anfangs geplant. Vergleiche ich mein nach einem Jahr eingereichtes Exposé zur Promotionsabsicht mit meiner endgültigen Arbeit, zeigen sich doch viele Überschneidungen. Insofern war es sinnvoll, mir für die Themenfindung viel Zeit zu lassen und genau zu überlegen, was ich wirklich machen möchte. Das hat mir enorm geholfen, denn so hatte ich einen roten Faden, der meine Untersuchungen und die schriftliche Arbeit strukturiert hat. Klar, es gab natürlich ein paar Abweichungen: nicht alles wurde wie geplant untersucht, anderes weggelassen. Dafür habe ich andere Aspekte umso ausführlicher behandelt, die vielleicht zunächst nicht so interessant klangen. Auch der zeitliche Rahmen wurde etwas ausgebaut, aber das lag in erster Linie an meiner Elternzeit, die ich glücklicherweise im mehreren Etappen beanspruchen durfte. Dass die Arbeit im Großen und Ganzen da hingeführt hat, wie ich es mir nach dem Ablegen der anfänglichen Überforderung überlegt hatte, konnte nur klappen aufgrund der wirklich tollen Arbeitsbedingungen und einem super Team: Danke euch allen!
Persönlich zu kämpfen hatte ich mit …
... den üblichen Höhen und vor allem Tiefen eines Promotionsstudenten. Man fragt sich andauert: „Ist das wirklich wichtig was ich hier mache? Interessiert das überhaupt noch jemand anderen?“ Dann ist man nie wirklich fertig mit der Arbeit, es gibt keinen richtigen Feierabend. Ständig denkt man noch über Dinge nach und kann schwer loslassen. Dieser emotionale Druck – den man sich aber in erster Linie selber macht – hat mich doch zeitweise stark belastet. Außerdem ist man als Promovend in erster Linie ein Einzelkämpfer und muss sich stets selbst motivieren. Das kann gleichermaßen Freiheit aber auch Zwang bedeuten. Niemand sagt einem was man machen soll. Es ist also gewissermaßen ein wenig, als ob das Studium einfach weitergeht, mit dem Unterschied das es keine Vorlesungen, Prüfungen und Semesterpartys gibt – also keine festen Strukturen, die einen zum Arbeiten motivieren oder zwingen. So benötigt man definitiv ein hohes Maß an Selbstdisziplin und darf insbesondere am Anfang, wenn man vor dem unüberschaubaren Berg der Promotion steht und in überhaupt nicht weiß, womit man jetzt bloß anfangen soll, verzweifeln!
Besonders stolz bin ich auf …
... meine Familie! Ich habe es geschafft, während meiner Promotion Vater von zwei wundervollen Kindern zu werden. Das relativiert doch teilweise ganz schnell den eben beschriebenen Kampf – ob man will oder nicht. Es bleibt oftmals gar nicht der Raum, um zuhause viel an die Arbeit zu denken. Aber genau das hilft enorm, um den benötigten Abstand zu bekommen. Dann aber die Promotion auch erfolgreich abschließen – das funktioniert nur mit dem entsprechenden Rückhalt in der Familie und den habe ich definitiv!
Mein nächstes Ziel ist …
... die Familie einzupacken, Europa mit unserem VW Bus zu bereisen und es vielleicht sogar bis nach Afrika zu schaffen!
Betreut wurde Dr. Philipp Stade im kooperativen Promotionsverfahren von den Professoren Dr. Stefan Weinzierl (TU Berlin) und Dr. Christoph Pörschmann vom Institut für Nachrichtentechnik der TH Köln. Stades Arbeit ist Teil des BMBF-Forschungsprojekts Auralisierung messtechnisch erfasster Schallfelder AurameS. Der Alumnus hat zuvor den Masterstudiengang Media- and Imaging Technology absolviert. |
Juli 2018