Verspielte Zeiten

Prof. Dr. Gundolf Freyermuth  (Bild: Costa Belibasakis/TH Köln)

Alle sprechen von der notwendigen Digitalisierung, doch wann kommt sie? Medienwissenschaftler Prof. Dr. Gundolf S. Freyermuth (Cologne Game Lab) ist überzeugt, dass uns digitale Spiele bei der Transformation helfen können.

Die Corona-Pandemie hat offengelegt, wie stockend die Entwicklung in Deutschland vorangeht – oder teilweise verschlafen wurde. Freyermuth wünscht sich ein Ende der Bürokratisierung, stellt aber fest, dass „Digitalisierung” oft falsch verstanden wird.

Ob auf dem Brett oder am Bildschirm: Spiele boomen und sind in der Pandemie gefragt wie nie. Abseits der klassischen Jump’n’Run-, Würfel- oder Kartenspiele können Spielerinnen und Spieler immer tiefer in komplexe und fantastische Welten eintauchen. Das Storytelling ist vielfältiger geworden. Oft stehen multiple Lösungswege zur Verfügung und treffen Spieler durch den sogenannten Legacy-Mechanismus Entscheidungen, die zu dauerhaften Veränderungen des Spielgeschehens führen. Und je nach Storytelling mitunter auch moralische Optionen fordern. Bin ich für das Gute, oder die „dunkle Seite“?

In der Vergangenheit wurde der uns Menschen eigene und sehr ausgeprägte Spieltrieb nur Kindern zugesprochen, die im freien Spiel motorische und kognitive Fähigkeiten entwickeln und Regeln und Verhaltensweisen lernen, während Erwachsene damit abgeschlossen und als Teil der Gesellschaft zu funktionieren haben. Dass Spielen aber so viel mehr für unsere kulturelle und gesellschaftliche Entwicklung bedeutet, formulierte erst in den 1930er Jahren der niederländische
Kulturhistoriker Johan Huizinga. Ihm zufolge haben wir unser Wissen dem homo ludens zu verdanken: Der spielende Mensch hat aus spielerischen Verhaltensweisen heraus die Kultur, Politik und Wissenschaft entwickelt. Durch Ritualisierungen und Institutionalisierungen wurde aus dem Spiel über die Jahrtausende hinweg Ernst.

Mit Spielen, vorrangig digitalen, und ihrer Geschichte und Theorie, beschäftigt sich auch der Medienwissenschaftler Prof. Dr. Gundolf S. Freyermuth, Co-Direktor und Co-Gründer des Cologne Game Labs (CGL) der TH Köln. Für ihn bieten uns Spiele, vor allem digitale, nicht nur eine Möglichkeit zur Regression und Realitätsflucht. Sie bieten uns auch die Chance, neue Lösungen zu entwickeln. Ganz konkret beispielsweise im aktuellen Pandemie-Geschehen, den damit verbundenen bürokratischen Wirrungen und einem administrativen System, das wir mitunter als ineffektiv und zeitraubend erleben.

Gerade hat das an der TH Köln entwickelte Serious Game Welten der Werkstoffe, an dem das CGL beteiligt ist, den Deutschen Computerspielpreis in der Kategorie Serious Games 2021 gewonnen. Hier können nicht nur Studierende spielerisch ein tieferes Verständnis für Metalle und Legierung lernen. Das Spiel belegt, dass sich Erkenntnisse und Handlungsweisen nicht nur analog, sondern auch digital sehr gut aneignen lassen.

Überwogen vor 20 Jahren noch die Vorbehalte gegenüber Computerspielen – hohes Suchtpotenzial, soziale Isolation, Bewegungsmangel, Gewaltverherrlichung, infantiler Zeitvertreib –, so stoßen sie mittlerweile auf immer breitere Akzeptanz. Die früheren Vorbehalte kennt Gundolf Freyermuth auch noch aus der  Gründungszeit des Instituts vor elf Jahren. Mittlerweile erfährt die Branche einen anderen Stellenwert, der auch dem CGL zugutekommt. Viel mehr Förderprogramme ermöglichen es dem Institut, an Spielentwicklungen für die kulturelle und soziale Wissensvermittlung zu kollaborieren.

Für Freyermuth ist der institutionelle Umgang mit der Corona-Pandemie in Deutschland der ultimative Beweis, dass unser administratives System einer digitalen Revolution bedarf. Bereits in den 1990er Jahren befasste er sich mit der digitalen Zukunft in seinem Buch Cyberland. Eine Führung durch den High-Tech-Underground. „Was ich damals, vor einem Vierteljahrhundert, als beginnende digitale Revolution an der US Westküste beschrieben habe, wird nun allmählich auch in Deutschland Gegenwart.“

Dass der homo ludens das Spielen zunehmend in den digitalen Raum verlagert, ist für Freyermuth eine logische Konsequenz unseres technologischen Entwicklungsstands und unserer ureigenen Bedürfnisse: „Wir haben ein kulturelles Verlangen nach Multilinearität und Interaktivität des Erzählens, das sich analog und digital Bahn bricht. Bereits in den 1920er Jahren führten Dadaisten und Surrealisten eine Vielzahl von Experimenten durch, um Narration aufzubrechen und durch Interaktion die Linearität der Erzählung zu verändern. Digitale Spiele haben dann seit ihren Anfängen in den 1950er Jahren immer komplexere Spielregeln und Stories entwickelt, und zwar einerseits in Wechselwirkung mit analogen Brett- bzw. Penand-Paper-Spielen und andererseits mit der Entwicklung künstlicher Intelligenz.“

Diese Multilinearität und Interaktivität können digitale Spiele besser erfüllen als analoge, weil sie in ihrer siebzigjährigen Evolution zu einem audiovisuellen Medium geworden sind. „Digitale Spiele zeigen uns, wie effektiv digitale Prozesse ablaufen. Durch ihren audiovisuellen Charakter sind digitale Spiele sogar wirkungsmächtiger als der Film! Sie können unsere Welt einfangen und darstellen, gleichzeitig üben sie in die digitale Gesellschaft ein.“

Durch den zunehmenden Einsatz der KI bei der Gestaltung der Spielwelten, Narrationen und Charaktere können Spiele eine Vielfalt und eine psychologische Tiefe entfalten, wie wir sie in der Literatur und im Film bereits erleben. Denn indem die KI und damit die Spiele lernen, unsere Worte, Mimik und Gestik zu verstehen, können sie in der Spielsituation intelligenter auf unsere Handlungen reagieren.

Angesichts schleppender und umständlicher Antrags- und Anmeldeverfahren für finanzielle Corona-Hilfen und Impftermine zeigt uns die digitale Welt der Games und Serious Games einen Ausweg aus der kafkaesken Bürokratie unserer Gegenwart:

„In Spielen gibt es all das nicht, was uns heute zurückhält, nämlich diese archaischen Reste der teilweise noch frühindustriellen Systeme. Die Formularwirtschaft stammt aus dem 19. Jahrhundert, ebenso wie große Teile unseres Unterrichtssystems. Digitale Spiele vermitteln uns dagegen ein Weltbild und ein Selbst-Bild, das digital ist. Und dazu gehört virtuelles Agieren und unmittelbares Feedback. In Arbeits- und Lebenswelten, die von den Möglichkeiten der Digitalisierung Gebrauch machen, lädt man keine Formulare runter, druckt sie aus, füllt sie aus und schickt sie mit der Hauspost oder gar Post irgendwohin, wo sie wieder in einen Computer übertragen werden. Der Kern digitaler Spiele ist die Modellierung dynamischer Systeme. Ob es das System Schach ist oder fiktive Gesellschaften und Kulturen: Virtuelle Spiel-Welten demonstrieren uns, was in der digitalen Kultur möglich ist.“

Daher seien auch häufig Herangehensweisen an die vielbeschworene Digitalisierung von Grund auf falsch gedacht. Freyermuth vergleicht die stotternde Entwicklung hierzulande mit den Anfängen des PCs im Büroalltag der 1980er Jahre. Den nahm man gerne anstelle der Schreibmaschine, um Briefe zu schreiben. Doch dann wurden die Briefe wie immer ausgedruckt und postalisch verschickt. Erst im nächsten Schritt erkannte man die Möglichkeit, sie als E-Mail zu verschicken. Und erst im übernächsten, dass die Empfänger sie nicht mehr ausdrucken und in Leitz-Ordner abheften mussten.

„Es ist eine falsche Auffassung der Digitalisierung, existierende Prozesse beizubehalten, also sie einfach auf digitale Technik umzustellen. Die Virtualisierung bietet gänzlich neue Möglichkeiten. Digitalisierung heißt, von den besonderen Qualitäten des Virtuellen Gebrauch zu machen. Das heißt, es müssen neue Prozesse entstehen, die das Potenzial des virtuellen Raums nutzen.“

Und weil Spiele uns hervorragend unmittelbares Feedback geben können, um Prozesse sinnvoll erfahrbar zu machen, werden zunehmend Elemente des Gamedesigns verwendet, um auch nicht-spielerische Prozesse angenehmer, schneller und effizienter zu machen. Zum Beispiel bei Bedienungskonzepten und ihren Steuerungsoberflächen oder in der Abwicklung von Arbeitsprozessen. Das nennt man Gamification.

Den homo ludens aufgreifend hat der US-amerikanische Gamedesigner Eric Zimmermann das Manifesto for a Ludic Century veröffentlicht. Aufgrund der Entwicklung des Computers sind demnach Spiele mittlerweile zu unserem Leitmedium geworden. Warum? Weil wir durch den Einsatz von Software mit Informationen spielen können, mit ihnen alles ausprobieren und wieder rückgängig machen können, und das in relativ kurzer Zeit. In einer Art und Weise, wie es in der analogen, industriellen Welt nicht möglich ist. Zum einen, weil das experimentelle Spielen an und mit Maschinen oft viel zu teuer ist, zum anderen, weil das teilweise auch gefährlich sein könnte.

Weil Informationen spielerisch geworden sind, heißt das nicht, dass wir im explorativen Übermut unverantwortlich mit ihnen umgehen dürfen. Doch es stellt sich mit Blick auf die digitalen Entwicklungen in anderen Ländern die Frage, warum wir uns in vielen Bereichen in Deutschland mit der Umstellung so schwertun. Eine einfache Antwort ist wahrscheinlich zu kurz gegriffen. Gundolf Freyermuth sieht dafür aber vor allem zwei Gründe. Der erste ist ein generationelles Problem: „Viele Menschen meines Alters haben sich sehr gut eingerichtet in diesen überholten Verhältnissen, die nachfolgende Generationen als unschön, langatmig und kompliziert erleben. Ich verstehe die Genügsamkeit und Selbstverleugnung meiner Generation nicht. Dabei geben viele von ihnen ja hinter vorgehaltener Hand zu, dass sie sich manchmal vorkommen wie in einem gigantischen Irrsinnssystem, das Lebenszeit und -lust verschlingt – und im schlimmsten Fall, wie in dieser Pandemie, tatsächlich Leben kostet.“

Und der zweite? „Das ist der Umstand, dass wir in Deutschland dazu tendieren, die selbstgeschaffenen Regeln so restriktiv wie möglich gegen uns selbst auszulegen und uns dadurch eigenhändig Fesseln anzulegen. Und so bei der Digitalisierung hinter anderen Ländern innerhalb und außerhalb Europas zurückfallen.“

Oft genug hat in der Vergangenheit die Faszination an literarischen und filmischen Geschichten und Visionen unsere Fantasie beflügelt, diese Ideen real werden zu lassen: Zum Beispiel Jules Vernes 20.000 Meilen unter dem Meer bei der Entwicklung des U-Boots oder die in den 1960er Jahren in Star Trek ersonnene Idee der nicht-invasiven Chirurgie. Stellt sich die Frage, welche Ideen aus den Fiktionen digitaler Spiele kurz- und langfristig noch unseren realen Alltag mitgestalten werden.

IT-Konzerne wie Microsoft oder Google kaufen nicht umsonst Spieleentwicklungen auf, um KI weiterzuentwickeln und darüber neue Technologien auf den Markt zu bringen. Aufhalten lässt sich diese Entwicklung nicht. Doch man sollte sie nicht nur profitorientierten Unternehmen überlassen. Vielmehr „sollten auch Hochschulen und alle, die sich mit Digitalisierung und digitalen Medien befassen und in dem Bereich forschen und ausbilden, wesentlich zum Gelingen der notwendigen Revolutionierung unserer Arbeitsweisen beitragen“, wünscht sich Freyermuth.

August 2021

Ein Artikel aus dem Hochschulmagazin Inside out


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