Small-Talk: Ist Netflix das Ende des Kinos?
Dr. Konrad Scherfer, Professor für Medienwissenschaften an der Fakultät für Informations- und Kommunikationswissenschaften, über die Frage, ob wir Film und Fernsehen in Zeiten von Streaminganbietern neu definieren müssen.
Auf den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes liefen zwei Produktionen des Streaminganbieters Netflix im Wettbewerb. Das erhitzte die Gemüter. Es kam zum Streit zwischen Festivalleitung, Filmverbänden und Verleihen, mit dem Ergebnis, dass ab 2018 nur Filme am offiziellen Wettbewerb an der Croisette teilnehmen dürfen, die später auch in den französischen Kinos laufen.
Herr Scherfer, können solche Reglementierungen das „Kulturgut Kino schützen“, wie es in der offiziellen Cannes-Begründung heißt?
Ich halte die Regelung, Netflix-Filme vom Wettbewerb auszuschließen für Kleinstaaterei, mit der man den Idealen der Nouvelle Vague jedenfalls nicht gerecht wird – also Regisseuren wie François Truffaut, Claude Chabrol oder Jean-Luc Godard. Frankreich subventioniert mit diesem Ausschluss sein nationales Kino. Das ist dort schon länger Usus. Das Kulturgut Kino geht daran aber eher zugrunde als dass es geschützt wird. Denn Netflix produziert keine drögen Blockbuster, sondern kinematografische Werke. In diesem Jahr nahmen in Cannes die zwei von Netflix finanzierten Filme Okja von Bong Joonho und The Meyerowitz Stories von Noah Baumbach am Wettbewerb um die Goldene Palme teil. Warum? Weil der französische Festival-Leiter Thierry Frémaux sie für künstlerisch wertvoll hält. Solange wir Filme lieben, sehen und dafür bezahlen, bleibt das Kulturgut Kino erhalten. Ob im Kinosaal oder bei Streaminganbietern.
Täuscht der Eindruck oder liegen in der Filmbranche die Nerven blank?
Richtig. Denn was Cannes betrifft, geht es mit Sicherheit nicht nur um den filmkünstlerischen Anspruch, sondern auch um die nationale Filmwirtschaft. Canal Plus, ein in Frankreich sehr starker Bezahlfernsehsender, finanziert Kinofilme durch den Erwerb von Ausstrahlungsrechten und als Koproduzent. Im Anschluss an die Kinoauswertung und vor der Ausstrahlung im frei empfangbaren Fernsehen, laufen die von Canal Plus finanzierten Filme im Pay-TV. Ich denke schon, dass die Chefs von Canal Plus ihren Einfluss geltend machen und versuchen, Streamingdienste in Schach zu halten.
Kann sich der Begriff Film über das Ausstrahlen auf einer großen Leinwand definieren, wie der Regisseur und Juryvorsitzende Pedro Almodóvar es formuliert hat?
Im Kino – auf der großen Leinwand – werden traditionell Filme gezeigt und insofern hat Almodóvar recht. Und dieses Kino wird hoffentlich als kulturelle Institution und Ort der Filmkunst überleben. Dazu leisten u. a. die amerikanischen Cannes-Preisträger Quentin Tarantino, David Lynch, Terrence Malick oder Martin Scorsese ihren künstlerischen Beitrag. Übrigens über ihre Regiearbeiten hinaus: Scorsese hat eine Film Foundation gegründet, um alte Filme zu retten. Und Tarantino engagiert sich mit Savefilm für den Fortbestand der analogen Produktion. Dennoch ist es aber eben so, dass sich die technischen Verbreitungswege, Displays und Rezeptionssituationen in den vergangenen Jahren massiv gewandelt haben. Die cinephile Gemeinde geht eben nicht nur ins Kino, sondern schaut Kinofilme im Fernsehen, auf Video, auf DVD und jetzt eben in der App (z. B. MUBI) oder bei Streaming-Diensten.
Streaminganbieter machen mit eigenen Serienproduktionen dem Fernsehen bereits große Konkurrenz. Müssen wir Fernsehen heute neu definieren?
Davon bin ich überzeugt. Wir müssen uns von der Vorstellung trennen, dass Fernsehen linear und flüchtig ist. Die wichtigste Erkenntnis: Institutionen bestimmen nicht mehr zwingend das Programmangebot. Das neue Fernsehen kommt ohne Sender aus und ohne Sendeplan. Es wird bestimmt durch eine individuelle, zeitunabhängige Programmrezeption – und läuft über verschiedene Plattformen. Besonders die junge Zielgruppe der 14- bis 29-Jährigen ist an der Videonutzung im Internet interessiert. Sie erreicht mit 51 Prozent die höchste Tagesreichweite aller Online-Video-Nutzer. Das Web nimmt für die Zukunft des Fernsehens eine zentrale Stellung ein, hier gibt es viel zu entdecken. Zum Beispiel Fernsehfilme und -serien bei Netflix und Amazon Prime. Oder ein Format wie die Mystery-Webserie Whishlist, die im öffentlichrechtlichen Funk-Netzwerk und auf YouTube lief. Übrigens prämiert mit einem Grimme-Preis: dem wichtigsten deutschen Fernsehpreis.
Interview: Monika Probst
August 2017