Nervenzellen und Schwerelosigkeit

Schwerelosigkeit beeinflusst die Signalübertragung neuronaler Netzwerke im Gehirn – ein wichtiger Faktor bei Weltraummissionen. An möglichen Gegenmitteln forschen zwei Doktoranden der Fakultät für Angewandte Naturwissenschaften im Team „MIND Gravity“. Das Education Office der European Space Agency (ESA) ermöglicht ihnen in diesem Jahr, ihre Hypothesen in einem Fallturm-Experiment zu überprüfen.

Durch das Programm „Drop Your Thesis!“ des ESA Education Office können studentische Teams den Fallturm des Zentrums für angewandte Raumfahrttechnologie und Mikrogravitation (ZARM) der Universität Bremen für ihre Forschungen nutzen. Der 146 Meter hohe Fallturm ermöglicht Experimente, bei denen bis zu fünf Sekunden lang Schwerelosigkeit herrscht. Im sogenannten Katapultmodus können sogar bis zu neun Sekunden erreicht werden. Das Team „MIND Gravity“ besteht aus insgesamt fünf Doktoranden sowie einer Doktorandin der Neurowissenschaften und der Chemie vom Universitätsklinikum Bonn, des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) und der TH Köln.

Das menschliche Gehirn und die Schwerelosigkeit

Kognition, Verhalten und Psychomotorik des Menschen werden vom Gehirn mit elektrochemischen Signalen von Milliarden von Neuronen gesteuert. Veränderungen der neuronalen Aktivität können psychische Störungen oder eine verminderte Leistungsfähigkeit hervorrufen. Bei Weltraummissionen könnte die Schwerelosigkeit einen Einfluss auf diese kognitiven Prozesse nehmen. Die genaue Wirkung wurde aber noch nicht abschließend geklärt. Daher ist das Verständnis dieser fundamentalen Prozesse unter veränderten Schwerkraftbedingungen umso wichtiger.

Neuronales Netzwerk auf einem Multi-Elektroden-Array-Technologie-Chip Neuronales Netzwerk auf einem Multi-Elektroden-Array-Technologie-Chip (Bild: Kendrick Solano)

Um diese Veränderungen zu untersuchen, hat das Team von MIND Gravity Nervenzellen auf einem Mikrochip zu einem neuronalen Netzwerk wachsen lassen. Der Mikrochip ist in der Lage mittels der Multi-Elektroden-Array-Technologie (MEA) in Echtzeit die elektronischen Signale der Nervenzellen auszulesen, was Rückschlüsse auf ihre Aktivitäten zulässt. MIND Gravity wird diese Zusammenhänge erstmals in einem Fallturm-Experiment untersuchen und versucht zu klären, welchen Einfluss Schwerkraftänderungen auf die elektrische Aktivität von Neuronen haben und ob es möglich ist, die Ergebnisse durch pharmakologische Eingriffe zu modulieren.

Teamfoto Nils Drouvé und Stefan Lukas Peters (3. und 4. v.l.) mit ihren Teammitgliedern Kendrick Solano (DLR und Universität Bonn), Yannick Lichterfeld (DLR und Universität Bonn), Laura Kalinski (DLR und Universität Bonn) und Johannes Striebel (Universität Bonn). (Bild: DLR)

Nils Drouvé und Stefan Peters vom Forschungsinstitut InnovAGe (Innovative Arzneistoffe für die alternde Gesellschaft) am Campus Leverkusen sind im Team für die Entwicklung der chemischen Substanzen zuständig, mit denen die potenziell negativen Einflüsse der Schwerelosigkeit aufgehoben werden sollen.

„Wir interessieren uns für die sogenannte ‚neuronale Plastizität‘ – die Fähigkeit von Synapsen und Nervenzellen, sich zu optimieren und dabei ihre Anatomie und Funktion zu verändern. In der Schwerelosigkeit nimmt diese Fähigkeit ab, das ist bereits bekannt“, so Peters. Am InnovAGe wurden „small molecules“ genannte Wirkstoffe entwickelt, die in Laborexperimenten die neuronale Plastizität deutlich verbessern können.

„Wie gut es um die neuronale Plastizität eines Netzwerks aus Nervenzellen bestellt ist, lässt sich anhand der elektrischen Signale beurteilen, die per Mikrochip ausgelesen werden können. Im Fallturm geht es im ersten Schritt darum, ob man die Auswirkung der Schwerelosigkeit in den fünf Sekunden messen kann, die der Fallturm bietet und darum, neue Einblicke in die zugrundeliegenden zellulären Mechanismen des menschlichen Gehirns zu gewinnen“, erläutert Peters. Wenn dies gelingt, kommen die neuartigen chemischen Substanzen der TH Köln zum Einsatz. „Wir möchten herausfinden, ob unsere Neuentwicklung als sogenannte ‚Countermeasure‘, also als Gegenmaßnahme bei Weltraummissionen eingesetzt werden kann, um etwaiger neuronaler Degeneration entgegenzuwirken“, so Drouvé.

Zurzeit findet die Kultivierung der neuronalen Zellen auf dem MEA-System in den Einrichtungen des Universitätsklinikums Bonn und des DLRs statt. Auch an der Hardware wird am DLR gearbeitet. Am Campus Leverkusen stellen die Doktoranden die zu testenden Substanzen her und analysieren diese. Das Experiment ist für November 2021 geplant.

This project is supported by the ESA Education Office as part of the Drop Your Thesis! Programme

The European Space Agency Education Programme

The European Space Agency (ESA) Education Programme has the objective to inspire and motivate young people to enhance their literacy and competence in science, technology, engineering and mathematics (STEM disciplines), and to pursue a career in these fields, in the space domain in particular. To this end, it offers a number of exciting activities that range from training and classroom activities that use space as a teaching and learning context for school teachers and pupils, to real space projects for university students.

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www.esa.int/Education/Drop_Your_Thesis
 

The European Space Agency

The European Space Agency (ESA) is Europe's gateway to space. Its mission is to shape the development of Europe's space capability and ensure that investment in space continues to deliver benefits to the citizens of Europe and the world. ESA is one of the few space agencies in the world to combine responsibility in nearly all areas of space activity: from Earth observation, space science, human spaceflight, exploration and launchers to navigation, telecommunications, technology and operations. ESA is an international organisation with 22 Member States. By coordinating the financial and intellectual resources of its members, it can undertake programmes and activities far beyond the scope of any single European country.

Link
www.esa.int
 

Center of Applied Space Technology and Microgravity (ZARM)

The Center of Applied Space Technology and Microgravity (ZARM) is a research institute of the University of Bremen focused on the investigation of gravity-dependent phenomena and space-related research. With a height of 146 meters the Bremen Drop Tower is the main laboratory of ZARM and the only laboratory of this kind in Europe. It offers the opportunity for short-term experiments in weightlessness and has acquired international renown during the last 25 years for offering microgravity conditions of the highest quality. Owing to the catapult system, a construction developed by ZARM engineers, the experiment duration has been extended to 9.3 seconds - unmatched by any other drop facility worldwide.

Due to its excellent microgravity conditions scientists from all over the world visit the Bremen Drop Tower in order to experiment in different fields of fundamental research like astrophysics, biology, chemistry, combustion, fluid dynamics, fundamental physics, and materials sciences or to conduct technology tests preparing and qualifying hardware for future space missions.

Link
www.zarm.uni-bremen.de

Februar 2021

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