Migration, Behinderung und Inklusion in der frühkindlichen Bildung

Kinder mit Migrationsgeschichte und Behinderung sowie ihre Familien stehen vor besonderen Herausforderungen. Wie Kindertageseinrichtungen dem begegnen, hat das Projekt ProMinKa (Professionalisierung für die Migrationsgesellschaft in inklusionsorientierten Kitas) untersucht. Prof. Dr. Andrea Platte vom Institut für Kindheit, Jugend, Familie und Erwachsene leitete die wissenschaftliche Begleitung.

Frau Prof. Platte, das dreijährige Forschungsprojekt ProMinKa ist jetzt zu Ende gegangen. Was war die Zielsetzung des Vorhabens?

Kinder, die als behindert oder von einer Behinderung bedroht gelten oder deren Familien einen Migrationshintergrund haben, finden im Bildungs- und im Hilfesystem Barrieren vor. Kommen diese beiden Faktoren zusammen, gilt das in besonderer Weise. Die Arbeiterwohlfahrt Unterbezirk Ruhr-Mitte als Projektleiterin möchte, dass alle Kinder in der Kita eine Betreuung, Bildung und Erziehung erfahren, mit der sie sich bestmöglich entwickeln können. Dafür gilt es Barrieren, die sich beim Eintritt und während der Zeit in der Kita gezeigt haben, zu erkennen, zu analysieren und zu beseitigen.

Wie wurde das Vorhaben umgesetzt?

Zwei Projektleiterinnen vor Ort haben fünf Modell-Kitas dabei unterstützt, die Schnittstelle zwischen Behinderung und Migration mehr in den Blick zu nehmen, etwa durch regelmäßige Beratungsangebote oder Elterncafés. Wir vom Forschungsschwerpunkt Bildungsräume in Kindheit und Familie haben gemeinsam mit Kolleginnen der Hochschule Niederrhein das Projekt wissenschaftlich begleitet und in diesem Rahmen auch Praxisentwicklung angeregt: In sogenannten Foren mit den Fachkräften und Akteur*innen der AWO haben wir unsere Beobachtungen rückgespiegelt und daraus gemeinsam Konsequenzen für den pädagogischen Alltag abgeleitet.

Den Projektabschluss bildete jetzt ein interner, digitaler Fachtag. Welche Ergebnisse haben Sie präsentiert?

Wir haben in der Präsentation Makro-, Meso-, und Mikro-Ebene unterschieden:

Auf der Makro-Ebene wurde deutlich, dass Bildungseinrichtungen aufgefordert sind, auf die Leistungsgesellschaft, die Migrationsgesellschaft sowie eine inklusive Gesellschaft vorzubereiten. Das ist widersprüchlich: Die Vorbereitung auf die Schule scheint den pädagogischen Alltag und damit auch Bildung, die auf Aussonderung verzichtet, zu verhindern. Das ebenfalls mit schulischen Anforderungen begründete Sprachgebot Deutsch wird der mehr- und quersprachigen Realität vieler Kinder nicht gerecht. Und was als Inklusion bezeichnet wird, scheint für den Kindergarten noch eben vorstellbar, führt aber – je näher die Einschulung rückt – zu Diagnostik und zur Feststellung von Entwicklungsverzögerung und Förderbedarf.

Auf der Meso-Ebene sind die Fachkräfte sowohl mit den Einrichtungs- und Trägerstrukturen als auch mit angrenzenden Professionen konfrontiert, wobei die pädagogische Arbeit durch Anforderungen aus der Verwaltung und dem medizinischen Bereich dominiert zu werden scheint. Die Folge davon ist die Unklarheit von Zuständigkeiten, die wir beobachtet haben: Einerseits werden (pädagogische) Zuständigkeiten weitergegeben zum Beispiel an Frühfördersysteme, andererseits werden Zuständigkeiten erwartet, die nicht pädagogischer Art sind (z.B. Diagnostik). Die Komplexität der Aufgaben führt zu Verunsicherung und steht der eigentlichen pädagogischen Arbeit und Expertise im Weg.

Die Interaktionen der Akteur*innen spielen sich auf der Mikro-Ebene ab. Dort scheint es so zu sein, dass die Zusammenarbeit gerade bei migrantisierten Familien weniger von Abstimmung als von Bevormundung geprägt ist. Auffällig war hier zudem: Die Arbeit mit den Kindern mache den größten Spaß, belegten gleich mehrere Interviewpartnerinnen.

Welche Empfehlungen geben Sie der AWO und den beteiligten Kitas?

Wir haben nach Barrieren gesucht, die die Kinder und Familien vorfinden und sind zusätzlich auf Barrieren gestoßen, die den Fachkräften im Weg stehen: Eine hohe Komplexität von Aufgaben, diffuse Zuständigkeiten und ambivalente Anforderungen verunsichern und führen zum Wunsch nach Absicherung. Um dem entgegenzuwirken, schlagen wir eine Fokussierung auf die Pädagogik und die Zusammenarbeit mit den Familien vor, sowie das Zurückweisen von Tätigkeiten, die nicht zum eigentlichen pädagogischen Aufgabenspektrum gehören, wie Diagnostik, Verwaltung und Management. Strukturell wäre die Konzeptionierung eines professionsübergreifenden, trägereinheitlichen Inklusionsverständnisses wünschenswert.

März 2021

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