Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften

TH Köln
Campus Südstadt
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Prof. Dr. Marc Schulz

Angewandte Sozialwissenschaften
Institut für Kindheit, Jugend, Familie und Erwachsene (KJFE)

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Kindertageseinrichtungen – keine Orte der Notbetreuung

Ad Hoc-Stellungnahme der Vorsitzenden der Kommission Pädagogik der frühen Kindheit in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE)

Bundesweit halten Kindertageseinrichtungen Notprogramme für Kinder bereit, deren Eltern in systemrelevanten Berufen arbeiten. Zudem zeigen die Einrichtungen, auf welche kreative Art und Weise sie, trotz der Schließung, zu den ihnen anvertrauten Kindern und Familien weiterhin Kontakt halten und trotz des ‚social distancing‘ gefestigte Beziehungen zu ihnen pflegen können. Diese sogenannte „Notbetreuung“ soll nach aktuellem Stand bis zu den Sommerferien aufrechterhalten werden. Zugleich wird der Sektor der Kindertageseinrichtungen und anderer vorschulischer öffentlicher Einrichtungen der Kinderbetreuung derzeit in den öffentlichen Überlegungen nachrangig behandelt, auch wenn über Fragen wie bspw. des Kinderschutzes, der Bildungsbenachteiligung und -gerechtigkeit, der bildungsbiografischen Anschlussfähigkeit von Kindern im Übergang von Kindertageseinrichtungen in Grundschulen oder der Entlastungsmöglichkeit für berufstätige und alleinerziehende Eltern diskutiert wird. Der derzeit alles überlagernde Begriff der „Notbetreuung“ verdeckt all diese vielfältigen gesellschaftlichen Funktionen der Kindertageseinrichtungen.

Als Fachgesellschaft vertritt die Kommission Pädagogik der frühen Kindheit in der DGfE fast 400 Wissenschaftler_innen. Zu deren maßgeblichen Forschungsfeldern gehören die Kindertageseinrichtungen. In der öffentlichen Debatte darüber, weshalb die institutionellen Angebote für Kinder bis zum sechsten Lebensjahr notwendig sind, kommen nachfolgende vier Aspekte aus wissenschaftlicher Sicht derzeit zu kurz:

1. Erhebliche Einschränkungen der Gleichaltrigen-Kontakte unter den Kindern

Es ist unumstritten, dass Kindertageseinrichtungen und andere öffentliche Einrichtungen der Kinderbetreuung einen gesellschaftlich relevanten Beitrag zur kindlichen Bildung und Entwicklung erbringen, gleichgültig, ob die Eltern einer Beschäftigung nachgehen oder nicht. Aus der Perspektive von Kindern werden sie dort nicht nur von Erwachsenen betreut oder an bildungsrelevante Inhalte herangeführt, sondern es sind auch Orte, an denen sie auf Gleichaltrige treffen, mit ihnen Zeit verbringen und über die Gestaltung von Beziehungen und gemeinsamen Aktivitäten selbst verfügen können. Die hohe Bedeutung einer Gleichaltrigenkultur – ob informell oder arrangiert – ist wissenschaftlich für soziale Bildungsprozesse hinreichend belegt. Kinder sind darauf angewiesen, dass ihnen die Erwachsenenwelt weiterhin Zugang verschafft, um ihnen diese wesentlichen Sozialkontakte zu ermöglichen – dies gilt sowohl für Kindertageseinrichtungen als auch für andere Orte kindlichen Lebens, die sie derzeit nicht aufsuchen dürfen.

2. Fehlende soziale Kontakte zu pädagogischen Fachkräften

Als familienergänzendes Angebot setzen die Einrichtungen das Recht des Kindes auf Bildung, Betreuung und Erziehung um. Die pädagogischen Fachkräfte sind für die Kinder zentrale Bezugspersonen, die sie kennen, denen sie vertrauen und zu denen sie emotionale Beziehungen pflegen können. Diese sozialen Kontakte sind für die Kinder weitaus bedeutender und vielschichtiger als sie im Verständnis von „Notbetreuung“ erfasst werden können. Aber auch für die Erziehungsberechtigten sind die pädagogischen Fachkräfte wichtige Partner_innen. Angesichts des Fachkräftemangels haben sich in den letzten Jahren, also bereits vor der sogenannten Corona-Krise, die Rahmenbedingungen für die pädagogische Arbeit in Kindertageseinrichtungen und Tagespflege und damit auch für die Gestaltung von sozialen Beziehungen zwischen Kindern, Erziehungsberechtigten und Fachkräften vielerorts verschlechtert. Diese sozialen Beziehungen stellen jedoch für alle Eltern bzw. Erziehungsberechtigten eine wichtige Säule für die Gestaltung des Aufwachsens ihrer Kinder dar und bieten für viele Entlastung, nicht nur wenn sie alleinerziehend und berufstätig sind oder mit ihren Kindern auf beengtem Wohnraum leben. Faire Arbeitsbedingungen sind zu jeder Zeit notwendig, damit das pädagogische Personal soziale Beziehungen zu Kindern und Eltern bzw. Erziehungsberechtigten auf sinnvolle Weise gestalten kann.

3. Gestaltete Übergänge in die Grundschule

Im vergangenen Jahrzehnt haben Kindertageseinrichtungen und Schulen intensiv an einer Verbesserung der institutionellen Zusammenarbeit zwischen den Einrichtungen gearbeitet, um allen Kindern den schulischen Einstieg zu erleichtern. Die positiven Effekte dieser Kooperationen wurden wissenschaftlich evaluiert und gelten als fachlicher Standard. Eine „Notbetreuung“ bedeutet für die älteren Kinder im Übergang zwischen Kindertageseinrichtung und Grundschule, dass geltende fachliche Standards ausgesetzt und Bildungsdisparitäten vergrößert werden.

4. Kindergarten als Ort zur Sicherung von Bildung und Teilhabe

Die Kindertageseinrichtungen leisten einen erheblichen Anteil daran, den Anspruch auf Leistungen zur Bildung und Teilhabe von Kindern aus von Armut betroffenen Familien umzusetzen, indem diese Kinder in den Einrichtungen u.a. mit Mahlzeiten versorgt werden. Diese Leistungen fallen derzeit ersatzlos weg, während betroffene Eltern diese Leistungen nicht aus dem Regelsatz bestreiten können. Des Weiteren darf insgesamt der Bildungsbeitrag der Kindertageseinrichtungen nicht in Vergessenheit geraten – sie bieten, so wie Schulen auch, nicht nur „Notbetreuung“, sondern Bildung an und leisten einen wichtigen Beitrag zu einem sozialen, demokratischen gesellschaftlichen Miteinander, zur Verbesserung von Teilhabechancen und zum Ausgleich von sozialen Ungleichheiten. Dies gilt umso mehr für die Familien, die auf vielfältige Weise mit den gravierenden Folgen der Pandemie konfrontiert sind.

Gerade vor dem Hintergrund, dass in der Bewältigung der Covid-19 Pandemie unterschiedliche Rechtsgüter, Interessen- und Bedarfslagen in einem spannungsvollen Verhältnis zueinanderstehen, gilt es auf sozial- und bildungspolitischer Ebene, Konzepte dafür auszuarbeiten, wie eine schrittweise Öffnung der öffentlichen Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern in Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflege unter Beachtung des notwendigen Gesundheitsschutzes zeitnah realisiert werden kann.

Vorsitzende der Kommission Pädagogik der frühen Kindheit in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE):

M.A. Bianca Bloch (Justus-Liebig-Universität Gießen)
Prof. Dr. Peter Cloos (Stiftung Universität Hildesheim)
Prof. Dr. Jens Kratzmann (Kath. Universität Eichstätt-Ingolstadt)
Prof. Dr. Melanie Kuhn (Pädagogische Hochschule Heidelberg)
Prof. Dr. Marc Schulz (Technische Hochschule Köln)
Prof. Dr. Wilfried Smidt (Leopold-Franzens-Universität Innsbruck)

20.04.2020

Zur DGfE Kommission Pädagogik der frühen Kindheit (PdfK)

Die in den 1970er Jahren gegründete Kommission in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) versteht sich als Organisation von Erziehungswissenschaftler_innen sowie Fachkolleg_innen angrenzender Disziplinen aus dem deutschsprachigen Raum, die sich in Theoriebildung und Forschung im Bereich der Pädagogik der frühen Kindheit im nationalen wie internationalen Kontext engagieren und so zu einer Weiterentwicklung der Fachdisziplin beitragen. Die Mitglieder der Kommission bearbeiten mit theoretischen, historischen, qualitativen und quantitativen Zugängen wissenschaftliche Fragestellungen der Pädagogik der frühen Kindheit in ihrer gesamten Breite.

Weitere Informationen unter: Kommission Pädagogik der frühen Kindheit

Impressum

Sprecher der DGfE-Kommission ‚Pädagogik der frühen Kindheit‘
Prof. Dr. Marc Schulz
Technische Hochschule Köln
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April 2020

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