Fachkräfte geben Auskunft über rassistische Erfahrungen ihrer Adressat*innen und Mitarbeitenden

Prof. Dr. Birgit Jagusch und Prof. Dr. Schahrzad Farrokhzad vom Institut für Migration und Diversität untersuchen gemeinsam mit ihrem Team im Forschungsprojekt „amal“ die Auswirkungen extrem rechter und rassistischer Gewalt auf das Alltagsleben der Betroffenen in NRW.

Dafür haben sie zunächst Fachkräfte aus der Sozialen- und Bildungsarbeit nach ihren Rassismus-Erfahrungen in ihrem beruflichen Kontext gefragt. Im Interview gehen die Wissenschaftlerinnen auf die Ergebnisse ein.

Prof. Dr. Birgit Jagusch Prof. Dr. Birgit Jagusch vom Institut für Migration und Diversität (Bild: privat)

Worum ging es bei der Online-Erhebung?

Jagusch: Wir haben uns gefragt, in welcher Art und Weise Fachkräfte aus Institutionen, deren Adressat*innen auch Menschen mit Migrationsgeschichte beziehungsweise Black People und People of Colour sein können, in Kontakt mit Rassismus und rechtsextremer Gewalt kommen. Insgesamt 805 Personen in Nordrhein-Westfalen haben sich an der Erhebung beteiligt. Die Teilnehmenden arbeiten überwiegend in der Kinder- und Jugendhilfe, (Migrations-)Beratungseinrichtungen, Betroffenenberatungen, Schulen, Behörden, der offenen Kinder- und Jugendarbeit oder in Senior*innen-Einrichtungen. Es wurde erfasst, ob die Fachkräfte rassistische und oder extrem rechte Gewalt identifizieren können, in welchen Kontexten sie diese wahrnehmen, was die Auswirkungen waren und inwieweit sich die Gewalt innerhalb oder außerhalb der Einrichtungen abspielt.

Wie wird rassistische und extrem rechte Gewalt im Projekt definiert?

Farrokhzad: Wir unterscheiden zwischen körperlicher, psychischer und sexualisierter Gewalt. Gewalt bezeichnen wir dann als rassistisch, wenn sie mit Abwertungen von Menschen aufgrund von rassistischen Zuschreibungen in Verbindung steht, zum Beispiel aufgrund von Herkunft, Religion oder Hautfarbe. Wichtig ist, dass Rassismus immer als gesellschaftliches Machtverhältnis verstanden wird. Extrem rechts motivierte Gewalt ist darüber hinaus auch geprägt von völkischem Gedankengut, Nationalismus oder antidemokratischen Haltungen.

Was hat die Befragung ergeben?

Jagusch: Rund 80 Prozent der Befragten haben mindestens einmal in ihrem beruflichen Alltag mitbekommen, dass Adressat*innen rassistische und oder extrem rechte Gewalt erfahren haben oder ihnen wurde davon berichtet. Mehr als 30 Prozent aller Befragten gaben an, Rassismus mindestens einmal im Monat oder häufiger zu erleben. Das zeigt als erstes Kern-Ergebnis: Extrem rechte und oder rassistische Gewalt ist im Alltag der Sozialen- und Bildungsarbeit allgegenwärtig. Darüber hinaus gaben knapp 74 Prozent der Fachkräfte, die sich selber als rassistisch-vulnerabel identifizieren, an, selbst rassistische und oder extrem rechte Gewalt in ihrem beruflichen Alltag zu erleben.

Prof. Dr. Schahrzad Farrokhzad Prof. Dr. Schahrzad Farrokhzad vom Institut für Migration und Diversität (Bild: privat)

Wo findet die Gewalt im Alltag statt, wenn nicht in den Einrichtungen?

Farrokhzad: Rund 55 Prozent haben angegeben, dass die Gewalt, die sie beobachten oder von der ihnen berichtet wird, außerhalb ihrer Einrichtungen stattfindet. Dominant mit fast 80 Prozent ist der öffentliche Raum, beispielsweise Parks und auf der Straße. Mit rund 67 Prozent folgen öffentliche Verkehrsmittel. An dritter Stelle kommen Behörden, gefolgt von Geschäften, beispielsweise Einzelhandel, an vierter, Arbeitsplatz an fünfter, Sport- und Freizeiteinrichtungen an sechster und Polizei an siebter Stelle.

Wie sieht es mit den Auswirkungen und Handlungsstrategien der Betroffenen aus?

Farrokhzad: Die stärksten Auswirkungen sind: Angst, Schreckhaftigkeit, Vertrauensverlust, Wut, Scham, psychosomatische Folgen wie beispielsweise Kopfschmerzen, Vermeidung von Orten, sozialer Rückzug, Traumatisierungen, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen und Verdrängung. 65,2 Prozent vertrauen sich ihrer Familie und oder Freund*innen an. Das zeigt, wie enorm wichtig der soziale Nahraum für die Betroffenen ist. Gut 45 Prozent suchen sich Hilfe in sogenannten Safer Spaces, also in geschützteren Räumen. An dritter Stelle steht, dass Betroffene Beratungsstellen aufsuchen, und mit einigem Abstand an vierter Stelle die juristische Unterstützung.

Sind sich die Einrichtungen schon darüber bewusst, dass auch bei ihnen Rassismus verbreitet ist?

Jagusch: Unsere Befunde zeigen, dass sie Befragten eine hohe Sensibilität gegenüber Rassismus haben und sich selber auch eindeutig rassismuskritisch positionieren. Wir können aus der quantitativen Erhebung auch ablesen, dass Rassismus beobachtet und gesehen wird. Allerdings folgt daraus noch nicht automatisch, dass die Einrichtungen konkrete Handlungs- und Präventionskonzepte haben, wie die Vorfälle mit den Betroffenen gut aufgearbeitet werden können. Es fehlen konkrete Schutzkonzepte, die mehr sind als ein Bekenntnis zu den Menschenrechten.

Wie geht es jetzt im Projekt weiter?

Farrokhzad: Es werden qualitative Interviews mit den Betroffenen geführt und ausgewertet. Die Beschreibung aus erster Hand hat eine andere Qualität und Tiefe, weil sie selbst schildern, was sie erlebt haben und wie sich dabei gefühlt haben. Gleichzeitig ist die Perspektive der Fachkräfte ebenfalls wichtig, weil wir hier von Gewaltereignissen erfahren, die uns sonst eventuell verborgen geblieben wären. Denn nicht alle von Gewalt Betroffenen möchten darüber selbst sprechen. Und es ging natürlich auch darum, den Umgang mit solcher Gewalt in Institutionen sichtbar zu machen, auch aus der Wahrnehmung der Fachkräfte. Beide Perspektiven werden wir noch miteinander vergleichen. Im Anschluss soll ein Papier zu Handlungsperspektiven für den Bildungs- und Beratungskontext entstehen. Das wird in einer Forschungswerkstatt mit Praktiker*innen aus Beratungs- und Anti-Diskriminierungsstellen erarbeitet.

Oktober 2022

Informationen zum Projekt

Das Forschungsprojekt „amal – Auswirkungen rechtsextremer und rassistischer Gewalt auf das Alltagsleben von Menschen mit Migrationsgeschichte und BPoC in NRW“ wird vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen im Rahmen des Wissenschaftsnetzwerks „Connecting Research on Extremism in North Rhine-Westphalia“ (CORE-NRW) gefördert. Es startete im Dezember 2020 und läuft bis Mai 2023. Das erstes Policy Paper zur quantitativen Online-Befragung von Fachkräften ist bereits erschienen.

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