Vorsorge auf allen Ebenen

Es wird lange dauern, bis die Schäden in den betroffenen Flutgebieten in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz wieder behoben sind. Warum gerade in ländlichen Regionen jetzt verstärkt ein Ausbau der kritischen Infrastrukturen und des Bevölkerungsschutzes notwendig ist und wie auf allen Ebenen Vorsorgemaßnahmen getroffen werden können, erklärt Prof. Dr. Alexander Fekete.

Mann Prof. Dr. Alexander Fekete lehrt und forscht am Institut für Rettungsingenieurwesen und Gefahrenabwehr (IRG) u. a. zu Risiko- und Krisenmanagement, Risikokommunikation, Kritischen Infrastrukturen und Bevölkerungsschutz. Außerdem ist er an unserer Hochschule Koordinator des Forschungsschwerpunkts „Bevölkerungsschutz im gesellschaftlichen Wandel“. (Bild: Alexander Fekete )

Nach der Flutkatastrophe wurde direkt die Frage laut: „Wer trägt die Schuld?“ Auch Ihnen wurde diese Frage von den Medien gestellt. Wie ordnen Sie als Experte diese affekthafte Schuldsuche ein?

Das ist ein normales Muster, eine natürliche Reaktion, die sich bei Katastrophen abspielt. Menschen reagieren auf solche Situationen mit Unverständnis und denken, dass jemand Schuld oder „versagt“ hat – das passiert nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Auch bei den Katastrophen wie dem Elbe-Hochwasser 2006 oder 2013 begegneten uns Menschen immer wieder mit Argwohn. Als Fachexpertinnen und -experten können wir solche Katastrophen leichter einordnen, da wir uns jahrelang mit diesen Thematiken beschäftigen. Daher müssen wir besonders sensibel gegenüber Laien sein. Hinzu kommt aber, dass in Deutschland die Schuldfrage gesellschaftlich noch einmal stärker verankert ist. Wir sind eine Gesellschaft, die sich schnell aufregt. Es gibt auch das sogenannte Vulnerabilitätsparadoxon: Je höher eine Gesellschaft entwickelt ist, um so hilfloser fühlen sich die Menschen, wenn etwas nicht mehr zur Verfügung steht. Wenn etwas nicht funktioniert, klagen wir und zeigen mit dem Finger auf andere. Diese Einstellung ist in solchen Situationen wie der Flutkatastrophe aber vollkommen unangebracht.

Ist also im Hinblick auf zukünftige Szenarien auch die Eigenverantwortung der Bürgerinnen und Bürger gefragt?

Ja, aber das ist ein sehr schwieriges Thema. Aus meiner Sicht gibt es mindestens fünf Zuständigkeitsebenen: Bürgerinnen und Bürger sind teilweise sogar zu einer Eigenvorsorge bei Hochwasser gesetzlich verpflichtet. Als zweite Ebene und in der Hauptverantwortung sind die Kommunen und Landkreise, wenn diese nicht mehr in der Lage sind, liegt die Verantwortung bei den Bundesländern. Die vierte Ebene ist der Bund, der zu Hilfe geholt werden kann, aber eigentlich nicht zuständig ist, da die Länder ihre Autonomie behalten wollen. Nummer fünf ist die internationale Ebene. Strategisch wird hier bereits viel getan, beispielsweise wurde 2012 die europaweite Hochwasserrahmenrichtlinie festgelegt. Ohne diese Richtlinie hätten wir heute keine flächendeckenden Hochwasserkarten an Flüssen.

„Wir müssen akzeptieren, dass wir nicht mehr alles zu 100 Prozent sicher gestalten können.“

In Hochwasserregionen wie an den großen Flüssen haben die Leute mit Überschwemmungen Erfahrungen. Mit Starkregen kennen wir uns aber noch nicht aus. Wie können wir uns zukünftig darauf vorbereiten?

Flusshochwasser ist an großen Flüssen wie dem Rhein relativ gut vorherzusagen, während ein Starkregen ähnlich wie ein Tornado oder Hagel sehr zufällig und punktueller zuschlagen kann. Es gibt bereits vereinzelte Handlungsempfehlungen für Starkregen vom Bund und auch von einzelnen Bundesländern, die auch bauliche Vorsorgemaßnahmen für Eigenheimbesitzer beinhalten. Aber es braucht Zeit, bis diese Regeln im Bewusstsein der Einzelnen ankommen. Es ist wichtig, dieses Bewusstsein zu schaffen, denn es gehört zur sogenannten risikoinformierten Gesellschaft. Das heutige Risikomanagement ist aber auch vom Aspekt der Resilienz geprägt: Wir müssen akzeptieren, dass wir nicht mehr alles zu 100 Prozent sicher gestalten können.

überschwemmtes Dorf Die Flutkatastrophe im Juli 2021 hat vielerorts bleibende Schäden verursacht. (Bild: iStock)

Wenn wir uns nicht mehr sicher sein können, wie sollten wir zukünftig mit den unkalkulierbaren Wetterereignissen wie Starkregen umgehen?

Wir können zwar nicht vorhersagen, wann und wo genau Starkregen niedergehen wird. Aber wir können erkennen, an welchen Orten die topografischen Bedingungen ungünstig sind, zum Beispiel in engen Tälern oder Senken. Einige größere Städte stellen bereits seit Jahren Starkregengefahrenkarten online, unter anderem Köln. Aber viele gerade ländliche Kommunen, die dafür weder über die nötigen Finanzmittel noch die Ressourcen verfügen, müssen unterstützt werden, um hochpräzise Daten zu entwickeln. Aber: Diese Daten bringen nichts, wenn die Menschen sie nicht nutzen oder nicht wissen, was sie damit anfangen sollen.

Sie sind Co-Autor des 2016 erschienenen Atlas der Verwundbarkeit und Resilienz. Sind dort auch Starkregenregionen erfasst oder werden Sie den Atlas jetzt nachbessern?

Unser Katastrophen-Warnsystem umfasste bisher überwiegend Hochwasserereignisse an den Flüssen. Es sind in den gesammelten Fallbeispielen auch fünf Arbeiten zu Starkregenereignissen für einige Regionen aufgeführt, aber auch an dieser Stelle müssen wir nachhalten, ergänzen und nachbessern. Jedoch sind diese Szenarien auch aufwändiger zu berechnen. Der Atlas gibt einen Überblick über den Forschungsstand. Leider kommen diese Erkenntnisse aber nicht unbedingt bei den Entscheiderinnen und Entscheidern an – obwohl wir uns bemühen, die Informationen adressatengerecht auf zwei Seiten verkürzt darzustellen, für die Behörden, Organisationen oder auch die Ansprechpartnerinnen und -partner in der Wirtschaft.

Wie gehen Sie vor, um die Entscheiderinnen und Entscheider zu sensibilisieren?

Bei unserem Projekt KIRMin beispielsweise haben wir vor ein paar Jahren mit der Stadt Köln und dem Rhein-Erft-Kreis sehr gut zusammengearbeitet: Wir haben aus der Wissenschaft heraus den Dialog hergestellt zwischen zwei benachbarten Landkreisen, die bis dato nicht oft miteinander zu den Themen Katastrophenschutz und Infrastrukturvorsorge gesprochen haben. Der erste Erfolg war, dass sich dadurch die Feuerwehren beider Gemeinden und Kreise ausgetauscht haben. Dadurch hat die Stadt Erftstadt neue Anregungen für den Aufbau ihres Krisenstabs, Risikoanalysemethoden oder den Aufbau einer Notstromversorgung erhalten. Oft sind es die kleinen Aha-Effekte, über die wir mehr Bewusstsein schaffen. Neben der Zusammenarbeit in Forschungsprojekten unterstützt unser Institut Kommunen und Einrichtungen, aber auch durch die Abschlussarbeiten unserer Studierenden. Dadurch können Ressourcenlücken geschlossen und mehr Informationen und Konzepte direkt vor Ort bereitgestellt werden. Zum Beispiel haben unsere Studierenden Konzepte für mobile Sirenen mitentwickelt.

Als bei der Flut der Strom ausfiel, versagten die digitalen Kommunikationskanäle. Warum sollten wir dennoch die Digitalisierung ausbauen?

In der Katastrophen-Kommunikation sind digitale Technologien nur ein Hilfsmittel und kein Ersatz für andere Systeme. Hauptsächlich wurden die Menschen durch mehrere Wege gewarnt: Der klassische Weg sind die traditionellen Medien wie Radio, Fernsehen und Zeitungen. Sinnvoll sind außerdem Sirenen. Hilfreich sind auch Menschen, die von Tür zu Tür gehen. Am Ende kann man durch direkten Kontakt und eine verständliche Kommunikation gewährleisten, dass die Betroffenen die Warnungen auch ernst nehmen – und selbst dann gibt es immer wieder Menschen, die die Warnungen unterschätzen oder ihr Hab und Gut beschützen wollen. Da hilft auch keine digitale Technik. Dennoch können wir durch digitale Technologien evtl. mehr Menschenleben retten, wenn wir diese Zusatzwege auch weiter ausbauen. Am IRG werden wir uns zukünftig vermehrt auch solchen Forschungsfragen stellen.

Gehen Sie davon aus, dass die Zahl der Forschungsanfragen und -projekte am Institut durch die Flutkatastrophe steigen wird?

Das ist ein sehr schwieriges Thema, denn wir wollen die aktuelle Situation nicht ausnutzen. Wir betonen immer wieder, dass wir uns hier nicht besonders hervortun, sondern auch als Expertinnen und Experten lieber zurückhaltend agieren wollen. Die Katastrophe hat gezeigt, dass wir mehr Daten und Informationen benötigen. Wir sehen jetzt vor der eigenen Haustür einen großen Förderungsbedarf. Es müssen auch für kleinere Flusseinzugsgebiete die Vorhersage von Hochwasserwellen verbessert und zuverlässige Warnsysteme aufgebaut werden. Diese Unterstützung ist in vielen Bereichen nötig, nicht nur in der Forschung. Es ist jetzt hoff entlich allen bewusst, wie wichtig die Bereitstellung zusätzlicher Hilfsmaßnahmen ist. Durch die Hochwassererfahrungen der letzten Jahre hat die Stadt Köln mittlerweile ihre Warnsysteme und den Hochwasserschutz komplett modernisiert. Das ist europaweit fast einmalig: Kaum eine andere Stadt hat so viel in ein neues Abwasser-, Informations- und Hochwasserschutzsystem investiert. Andere Kommunen haben diese Mittel nicht bekommen und ein riesiges Problem. Forschungsprojekte sind oft der erste und einzige Weg, um hier eine Grundlage zu schaffen, um Entscheidungsträger und Finanzierer zu überzeugen, noch mehr zu tun. Denn meistens fehlt es an der Datengrundlage, um bewerten zu können, welche Risiken eine Stadt oder Kommune treffen können.

Müssten neben der kommunalen Verwaltung auch Einsatzbereiche wie Feuerwehr und THW stärker gefördert werden?

Kommunen, die knapp bei Kasse sind, benötigen spezielle Fördermechanismen. Die gab und gibt es zum Beispiel bei der Klimawandelanpassung. Das hat einigen Kommunen ermöglicht, Personal einzustellen und sich überhaupt an solchen Forschungsvorhaben zu beteiligen. Aber im Alltag haben die Kommunen oft andere Probleme. Die Feuerwehren und Rettungsdienste sind zwar gut finanziert, laufen bei den Kommunen aber immer als eine Art Sonderposten. Das heißt, jede zusätzliche Forschungsstelle ist für die Kommunen kaum finanzierbar. Große Städte wie Köln, Berlin, München oder auch Dortmund können sich solche personellen Ressourcen mittlerweile leisten. Allerdings sind diese Personalkosten auf die Dauer schwer aufrechtzuerhalten. Ich würde mir sehr wünschen, dass auch für kleinere Kommunen ähnliche Programme aufgelegt werden, damit sie robustere Vorhersagemodelle entwickeln und konkrete Lösungsvorschläge erarbeiten können.

Fünf Prinzipien für klimasichere Kommunen und Städte

1. Frühwarnsysteme verbessern und den Bevölkerungsschutz stärken: Auch für kleinere Flusseinzugsgebiete gilt es, die Vorhersage von Hochwasserwellen zu verbessern und zuverlässige Warnsysteme aufzubauen. Neben der Entwicklung von robusten Vorhersagemodellen ist die Etablierung einer dauerhaften und verlässlichen Kommunikation mit Vertreter*innen von Städten und Gemeinden sowie den Bürger*innen vor Ort unerlässlich. Nur eine Warnung, die Menschen verstehen und der sie vertrauen, wird zu den gewünschten Handlungen führen.

2. Schwammfähigkeit und Speicherfähigkeit steigern: Neben etablierten Schutzlösungen, wie Deichen, Mauern und Poldern, gilt es vermehrt, Gemeinden, Städte und Landschaften wie Schwämme zu konzipieren und den Wasserrückhalt in der Landschaft zu verbessern. Jeder Kubikmeter Wasser, der nicht über die Kanalisation in Bäche und Flüsse eingeleitet wird, trägt zur Abflachung von Hochwasserwellen bei, kann diese aber, wie bei den Ereignissen 2021, nicht verhindern. Daher gilt es, den Wasserrückhalt und das Speichervermögen von Flussauen, Wald- und Agrarlandschaften, aber auch in den dichter besiedelten Bereichen durch zusätzliche Grün- und Freiflächen zu steigern. Gerade für extreme Niederschläge sind zusätzliche Speicherräume und grüne Infrastrukturen so zu konzipieren, dass diese auch als Notwasserwege im Fall der Fälle vorbereitet sind. Ein hohes Speichervermögen für Wasser hilft nicht nur in Hochwasser-, sondern auch in Trockenzeiten.

3. Klimaprüfung von kritischen Infrastrukturen durchsetzen: Bei der Sanierung, dem Wiederaufbau nach Katastrophen und dem Neubau von öffentlichen Infrastrukturen und Gebäuden – insbesondere sogenannten kritischen Infrastrukturen – gilt es, die Folgen des Klimawandels abzuschätzen und Bemessungswerte entsprechend zu erneuern. Dies schließt auch die Berücksichtigung von Kaskadeneffekten durch die Unterbrechung von Versorgungsleistungen in Infrastruktursystemen ein. Infrastrukturen (Versorgung mit Wasser, Strom etc.), das Rückgrat unserer modernen Gesellschaft, müssen so konzipiert werden, dass sie auch in extremen Wetterlagen funktionieren oder entsprechende Rückfalloptionen erlauben. Es ist nicht hinnehmbar, wenn gerade während einer Krise notwendige Kommunikationsnetze, medizinische Dienstleistungen und Einrichtungen ausfallen, da sie nicht hinreichend auf solche Extremereignisse vorbereitet sind.

4. Klimasicherheit von Gebäuden fördern: Bei dem Neubau bzw. der Sanierung im Bestand gilt es, die Klimasicherheit von Gebäuden von Anfang an mitzudenken und den Schutzstandard zu erhöhen, insbesondere auch von Einrichtungen, die besonders vulnerable Gruppen wie Kinder, Senioren oder behinderte Menschen beherbergen. Dafür bedarf es, ähnlich wie bei der energieeffi zienten Sanierung, finanzieller Förder- und Anreizinstrumente sowie der Etablierung vorsorgeorientierter Versicherungsprämien. Auch bei Bauanträgen und Immobilienverkäufen sollten systematisch entsprechende Informationen über Starkregen- oder Hochwassergefahren bereitgestellt und abgefragt werden. Zukunftsherausforderungen im Gebäudebestand allein appellativ bzw. reaktiv meistern zu wollen, wird nicht ausreichen.

5. Gestaltungs- und Durchsetzungswille ist ebenso notwendig wie Kooperation und Solidarität: Für den Umbau bedarf es des Innovations- und Gestaltungswillens auf Seiten von Städten, Gemeinden, Investoren und Privatpersonen ebenso wie des Einsatzes von Finanzierungs- und Anreizinstrumenten auf Seiten des Bundes bzw. der Länder. Es braucht durchsetzungsstarke Instrumente in der Planung und kohärente und standardisierte Rahmenwerke und Vorgehensweisen. Des Weiteren sind Nutzen und Lasten des Umbaus hin zu klimasicheren Städten und Gemeinden solidarisch zu verteilen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Gemeinden, die im Oberlauf von Flüssen mehr Raum für Wasser schaffen, werden davon nur indirekt profitieren; Gemeinden im Unterlauf aber unmittelbar, da das Überflutungsrisiko reduziert wird.

Vollständige Veröffentlichung unter: https://riskncrisis.wordpress.com, Juli 2021

Januar 2022

Ein Artikel aus dem Hochschulmagazin Inside out


M
M