Ein Gefühl für Körperformen: Aktmalen bei den Restauratoren
Nackt vor bekleideten Menschen stehen – für viele Menschen eine gruselige Vorstellung. So etwas träumt man vielleicht, gewollt oder ungewollt. Aber ein Job als Aktmodell? Undenkbar – oder etwa nicht? Luba hat mit ihrer Nacktheit kein Problem.
In Raum 40, dem Ort für das Seminar Aktmalen, wartet sie auf die letzten Nachzügler. Eingerahmt von einem Kreis aus Zeichentischen steht sie da nur mit einem Tuch bekleidet. Es ist recht kühl im Raum. Während einige Studierenden noch ihre Utensilien sortieren, lässt Luba die letzte Hülle fallen und steigt auf das Holzpodest. „Ich stoppe die Zeit bei fünf Minuten“, ruft Stamy Kouspakeridis seinen Kommilitoninnen zu. Die hängen bereits in voller Konzentration über ihre Zeichenblöcke gebeugt. Die einzige, die jetzt noch redet, ist Lubas kleine Tochter. Auch sie hat Malstifte dabei, beschäftigt sich aber lieber mit ihrer angelutschten Dinkelstange und unterhält die anderen mit munterer Kleinkindersprache.
„Es geht im Seminar nicht um das Zeichnen im akademischen Sinn“, erklärt der Leiter Jacky Beumling. Als Teil der Feststellungsprüfung müssen alle Studienplatzbewerber für den Bachelor Restaurierung und Konservierungswissenschaften in ihrer Mappe auch Zeichenproben abgeben. Das Wahlpflichtfach Aktmalen ist seit über zehn Jahren ein Dauerbrenner auf dem Lehrplan.
Hirnschmalz statt Geschicklichkeit
Die Kurse sind besonders bei Studierenden mit dem Schwerpunkt Wandmalerei und Stein beliebt. Jacky Beumling will ihnen vermitteln, wie sie ein Gefühl für Formen entwickeln: „Sie sollen den Körper als Volumen sehen und üben, wie weit man Pinsel und Farbe führen muss, um die Körperbewegung anschaulich wiederzugeben. Das hat mehr mit räumlichem Denken, als mit manueller Geschicklichkeit zu tun.“
Das merkt auch Judith Hartung (25). Sie hat in den letzten Sitzungen mit Farben und Pinseln gearbeitet. Heute ist sie zum Kohlestift übergegangen. Das sei schwieriger, denn man kann kaum einen Strich korrigieren. Bevor Judith mit der Schulter beginnt, muss sie genau überlegen, wo sie den Stift ansetzt, sonst ist die Partie nachher verzeichnet – unproportioniert, oder die Perspektive stimmt nicht. „Ich muss die gedankliche Arbeit direkt auf die Figur übertragen, das ist super spannend. Es ist sowieso toll, dass der Kurs angeboten wird.“
Die fünf Minuten sind um. Luba hat sich inzwischen auf einen Stuhl gesetzt, ein Arm hängt lässig über der Lehne. Mit einer Mischung aus schläfrigem Gleichmut und Herausforderung blickend, erinnert ihr Ausdruck an Figuren barocker Gemälde oder an die Damen des französischen Impressionisten Henri de Toulouse-Lautrec.
Doch Nadine Fischer (21) ist mit der Perspektive gerade nicht zufrieden. Sie sitzt in Lubas Rücken und kann deren Beine nicht mehr sehen, an denen sie eben noch gearbeitet hat. Unschlüssig hält sie inne. Und was jetzt? Wieder gibt Stamy Kouspakeridis das Zeichen für einen Positionswechsel. Luba gleitet zu Boden, benutzt die Sitzfläche des Stuhls als Kissen. Keine Verbesserung für Nadine: Sie sieht immer noch kein Bein. „Ich würde mich als Modell ausgeliefert und wehrlos fühlen“, sagt die Studentin. In der ersten Stunde habe sie sich auch etwas schwer getan, nicht darüber nachzudenken, dass Luba nackt vor ihr steht. Schließlich könne man sie doch nicht die ganze Zeit anstarren. „Mittlerweile sehe ich nur noch die Figur, die ich möglichst naturgetreu wiedergeben möchte, aber mit meinem eigenen Stil.“ Bei der Restaurierung von Wandmalereien möchte Nadine eine geschickte und sichere Hand haben, wenn sie fehlende Stellen mit Ausdruck und Form füllen muss. Den Kurs sieht sie als gute Fingerübung.
Aktstehen erfordert Talent
Mittlerweile liegen die Zeitintervalle für die Positionen bei zehn Minuten. Stamy (36), Zeithüter und heute der einzige Student im Kurs, findet die entspannte Atmosphäre einfach nur „wunderbar“. Er besucht den Kurs schon seit einigen Semestern aus persönlichem Interesse. Jetzt steht bei ihm eine Hausarbeit zum „Aktmalen mit zwei Farben“ an. Für seine Arbeit als Papierrestaurator sei das nicht so relevant, vielleicht für einige Retuschierungen. Wenn er Fehlstellen im Papier behebt, hat das für Stamy wenig von künstlerischer Kreativität im allgemeinen Sinn. Deshalb braucht er Ausgleich.
Am liebsten benutzt er einen besonders feinen Stift, den Rapidografen. Sein Notizbuch ist voll von kleinen Comics und Zeichnungen – „allein schon deshalb könnte ich keinen digitalen Organizer benutzen.“ Könnte er selber das Aktmodell geben? „Nein, ich muss doch ein Vorbild sein für meine jungen Kommilitonen“, sagt er und muss lachen. „Höchstens, wenn mich niemand kennen würde.“ Überzeugt davon klingt er aber nicht.
„Nicht jeder kann Modell stehen“, erklärt Beumling. Dazu brauche man ein Gefühl für Positionen, in denen Spannung und Dramatik stattfinden. „Luba ist ein Profi, sie beherrscht das sehr gut.“ Die hauptberufliche Musikerin begann ihre Akt-Karriere bereits mit sieben Jahren. An der Russischen Kunstakademie Sankt Petersburg posierte sie vor den Kunststudenten. Was hier undenkbar wäre, ist dort normal. Schließlich haben Kinder und Jugendliche andere Proportionen als Erwachsene, die es aus akademischer Sicht zu studieren gilt. „Und außerdem bin ich eine Exhibitionistin“, ruft Luba fröhlich.
Mehr Respekt durch nackte Haut
Gleich darauf lobt sie die Studierenden für ihre poetischen Bilder, ihre Freude an Farben und den frischen, unverdorbenen Ausdruck der Anfänger. Es gehe beim Akt um Plastizität, nicht um einen schönen Körper. „Da mache ich mir keine Illusionen“, sagt Luba schmunzelnd. „Dabei sind alle hier ganz gentlemanlike.“ Aus Scheu, oder aus Höflichkeit? „Nackte Haut ist wie eine Schutzhülle. Ich erfahre nackt von anderen Leuten viel mehr Respekt, als im Alltag, zum Beispiel in der U-Bahn.“
Die Stunde ist zu Ende. Luba springt vom Podest und begutachtet die vielfarbigen Ergebnisse. Eine erste Nachbesprechung beginnt. Judith, Nadine und Stamy wirken zufrieden. „Von jedem von euch bekomme ich bitte ein Bild als Andenken“, bittet sie die Studierenden. Für ihre Sammlung.
April 2014