Ein Artikel aus dem Hochschulmagazin Inside out

Die Integrations-WG

Warum nicht Studierende und junge Flüchtlinge zusammen wohnen lassen? In ihrem integrativen Wohnkonzept ViaLiberta setzen Studierende der Sozialen Arbeit auf das Modell studentischer Wohnheime, in denen geflüchtete junge Männer und Frauen gemeinsam mit Studierenden und Auszubildenden in kleinen WGs leben.

Neben günstigem Wohnraum bietet ViaLiberta professionelle soziale Betreuung und eine Tutorenschaft: Studierende und Auszubildende unterstützen die Flüchtlinge bei der sozialen Integration. Die GAG Immobilien AG zeigt bereits Interesse.

Was ist die Kernidee von ViaLiberta?
Nicole Jäger:
Viele Geflüchtete leben in Köln isoliert in Gemeinschaftsunterkünften am Stadtrand oder in Notunterkünften ohne Privatsphäre wie beispielsweise in Turnhallen. Diese Unterkünfte sind defizitär und behindern die gesellschaftliche Integration. Dabei sind unter den jungen Geflüchteten viele mit großem Potenzial und Ressourcen, teilweise auch mit höheren Bildungsabschlüssen, die hier nicht anerkannt werden. Wir wollen ein neues, innovatives Projekt starten, das sie in ihrem Potenzial unterstützt und eine Generation zusammenbringt: Viele sind in der ähnlichen Altersgruppe wie Studierende und Auszubildende. Wenn sie gemeinsam in einer Wohnform mit kleinen Wohngemeinschaften leben, entstehen daraus Synergieeffekte und für alle ein Mehrwert: Auszubildende und Studierende können von diesen WGs interkulturell profitieren. Und indem sie sich gleichzeitig als Tutoren engagieren, unterstützen sie geflüchtete junge Männer und Frauen, sich im sozialen Umfeld eines Stadtviertels zu integrieren. Denn unserer Meinung nach sind Integrationsprozesse keine einseitige Anpassungsleistung. So könnten mehr Toleranz und Akzeptanz in unserer Bevölkerung entstehen.

Warum sind die Wohnformen nach Geschlechtern getrennt?
Thorsten Segers:
Darüber haben wir viel diskutiert. Wir wollen die Geflüchteten nicht direkt überfordern und fanden die Trennung auch wichtig, um einer heterogenen Zielgruppe Schutzräume zu bieten. Männer und Frauen leben auf einem Campus, aber in getrennten Häusern.

Ihr Konzept sieht außerdem Personalstellen vor bei der Haustechnik, der Gebäudesicherheit und vor allem bei der sozialen Betreuung – das schafft Arbeitsplätze, verursacht aber auch zusätzliche Kosten.
Thorsten Segers:
Wir sehen gegenwärtig die Gefahr, dass sich die Fehler der Vergangenheit bei der Integrationspolitik wiederholen könnten. Wir wollen eine konstruktive Lösung entgegensetzen. Wir glauben, dass eine Gesellschaft entscheiden kann, jetzt Geld zu investieren, um die späteren Folgekosten einer missglückten Integration zu verringern. Die Unterbringung der Menschen in alte Hotels kostet die Stadt sehr viel Geld, der Profit liegt bei den Hotelbetreibern. Doch die Unterbringung ähnelt oft dem offenen Vollzug und auch die Verwahrung in Turnhallen bietet keinerlei Privatsphäre, weil dort der Brandschutz wichtiger ist als Duschvorhänge. Das Geld für diese Form der Unterbringungen könnte die Stadt auch in integrative Wohnformen investieren. Ich begleite ehrenamtlich einen jungen Mann, der geflohen ist. Er hat kaum Kontakte in die Mehrheitsgesellschaft. Deshalb war unsere Idee, durch ViaLiberta auch Kommunikationsräume zu schaffen.

Für Azubis und Studierende bietet das Konzept preiswerten Wohnraum, der, wenn sie sich als Tutoren engagieren, noch günstiger ausfällt.
Helga Saß:
Damit wollen wir Anreize schaffen. Der Wohnaufenthalt ist aber begrenzt bis zum Ende des Studiums und der Ausbildung. Auch für die Geflüchteten haben wir einen Zeitraum von maximal vier Jahren veranschlagt. Denn es liegt auch in ihrem Interesse, eine eigene Wohnung zu finden und sich selbst finanzieren zu können.

Thorsten Segers: Wir möchten nicht, dass junge Geflüchtete im Niedriglohnsektor für Geringqualifizierte landen. Statt sie in ihrer Motivation abzuwürgen sind Deutschkurse und eine berufliche Qualifi zierung wichtig. Deshalb sieht unser Konzept neben den Wohnungen auch Gewerbeeinheiten vor, in denen die Geflüchteten sich konstruktiv beschäftigen können. Zum Beispiel in einem Internetcafé oder einem Selbstversorgungsladen für die Nachbarschaft. Es gibt viele motivierte ehemalige Ausbilder der IHK. Warum gibt man diesen Leuten nicht die Möglichkeit, ihre dreißigjährige Berufserfahrung in so ein Projekt einzubringen und junge Leute beim Aufbau der Geschäfte anzuleiten? Die Beschäftigung junger Flüchtlinge ist ein schwieriges Thema, bei dem sich die Stadt, die Verbände und die IHK an einen Tisch setzen und nach kreativen Lösungen suchen müssen.

Sie haben ViaLiberta vor Vertretern von Wohnungsbaugesellschaften, Wohlfahrtsverbänden und der Stadt Köln vorgestellt. Wie waren die Reaktionen?
Helga Saß:
Wir waren erst einmal sehr überrascht über das große Interesse – aktiviert von Prof. Herbert Schubert kamen sehr viele Besucher. Mit diesem Zuspruch hätten wir niemals gerechnet. Die Reaktionen auf unser Konzept waren ebenfalls sehr positiv. Vor allem die Caritas und die GAG zeigten sich sehr interessiert. Die GAG möchte das Konzept eventuell umsetzen, wir stehen gerade in Kontakt und bereiten unser Konzept noch einmal auf.

Wie schätzen Sie Ihre Chancen bei der GAG ein?
Thorsten Segers:
Wir würden uns freuen, wenn Teilelemente übernommen werden und wir dann die Realisierung begleiten können. Deshalb wäre es schön, wenn wir tatsächlich noch eine Einladung von der GAG erhalten und es nicht bei der emotionalen Resonanz bleibt. Die GAG ist recht umtriebig und nimmt gerne kreative Ideen auf. Bei Neubauprojekten bietet sie mittlerweile die Möglichkeit, dass sich private Initiativen für alternative Wohnformen bewerben können. Wenn wir da andocken könnten, das wäre super.

Die Fakultät verlängert ihre Vorlesungsreihe zur Flüchtlingspolitik noch um  mindestens ein weiteres Semester. Geschieht das auf Initiative der Studierenden?
Nicole Jäger:
Die bisherigen Seminare haben uns so viel Input und interdisziplinäre Expertise vermittelt, das haben wir den Dozentinnen und Dozenten widergespiegelt. Die Entscheidung der Fakultät, diese Thematik als Schwerpunkt zu setzen und sich darüber ein Profil zu geben, war genau richtig und kommt allgemein bei uns sehr gut an. In der Sozialen Arbeit haben wir bei der Flüchtlingspolitik zwei Aufträge: uns politisch zu engagieren und Stellung zu beziehen sowie die Integration von Menschen zu ermöglichen. Das betrifft mittlerweile viele Fachgebiete in der Sozialen Arbeit. Ich arbeite in der Wohnungslosenhilfe, Helga in der Jugendhilfe mit unbegleiteten Minderjährigen. Thorsten arbeitet ehrenamtlich mit Geflüchteten und Oksana als Kulturvermittlerin in der Flüchtlingshilfe. Die Situation geflüchteter Menschen wirkt sich auf diese Bereiche aus; sie verändert die Arbeitsfelder und schafft gleichzeitig ein neues. Deshalb profitieren wir sehr von der Vorlesungsreihe. Außerdem erleben wir gerade, dass Fachkräfte der Sozialen Arbeit vermehrt gesucht werden. Es ist wichtig, Projekte anzustoßen, die positive Auswirkungen haben und gute  Integrationsbeispiele sind. Trotz der verunsicherten bis negativen Stimmung gibt es die nämlich durchaus. Aber über sie wird bisher viel zu wenig in den Medien berichtet.

Interview: Monika Probst

April 2016

Ein Artikel aus dem Hochschulmagazin Inside out


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