Was hinter der Debatte um mehr Leistungsbereitschaft steckt

Sind Beschäftigte in Deutschland weniger motiviert, viel zu arbeiten und sich anzustrengen? Über diese Frage diskutieren vor allem Vertreter*innen aus Politik und Wirtschaft immer wieder. Prof. Dr. Dominik Enste vom Schmalenbach Institut für Wirtschaftswissenschaften ordnet die Debatte im Interview ein.

Prof. Dr. Dominikus Enste "Wenn [...] Wohlstand gesichert werden soll, dann müssen wir das kollektive Arbeitspensum tatsächlich steigern." Prof. Dr. Dominikus Enste vom Schmalenbach Institut für Wirtschaftswissenschaften (Bild: IW Akademie)

Prof. Enste, was genau bedeutet Leistungsbereitschaft?

Oftmals bleibt in den öffentlichen Debatten rund um das Thema Leistungsbereitschaft etwas unklar, wie sich der Begriff eigentlich definieren lässt und worauf sich ein mangelnder Leistungswille bezieht. Also geht es um die allgemeine Motivation zu arbeiten, oder eher um die Bereitschaft, eine Extra-Meile zu gehen und Überstunden zu machen? Oder doch um die reine Arbeitszeit? Hier gibt es zumindest eine Möglichkeit, sich dem Begriff anhand konkreter Zahlen zu nähern – und zwar, indem man die sogenannten Lebensarbeitsstunden im internationalen Vergleich betrachtet, also die Arbeitszeit vom Berufseinstieg bis zur Rente. Hier liegt Deutschland EU-weit mit geschätzten 52.662 Stunden auf dem vorletzten Platz vor Luxemburg. Die meiste Zeit mit Arbeit verbringen die Menschen in Estland mit schätzungsweise 71.331 Stunden.

Warum ist das so?

Aktuell können wir uns weniger Lebensarbeitsstunden leisten, weil wir uns in Deutschland über viele Jahre hinweg einen gewissen Produktivitätsvorsprung erarbeitet haben. Die Babyboomer beispielsweise haben zu Zeiten ihres Berufseinstiegs nachweislich mehr gearbeitet als junge Arbeitnehmer*innen heute. Das liegt daran, dass es damals die Notwendigkeit gab, eine höhere Arbeitsleistung zu erbringen. Es galt das Wirtschaftswachstum anzukurbeln und die Lebensumstände zu verbessern. Nachfolgende Generationen haben von dem lange erarbeiteten Wohlstand profitiert. Ein hohes Arbeitspensum wurde dadurch weniger notwendig. Der Produktivitätsfortschritt ist in Deutschland für mehr Freizeit genutzt worden, während zum Beispiel in den USA der Zuwachs des Wohlstands gemessen als Bruttoinlandsprodukt pro Kopf geflossen ist.

Handelt es sich bei der Debatte um geringen Leistungswillen also auch um einen Generationenkonflikt?

Einige Vertreter*innen aus Politik und Wirtschaft, die vor allem der Generation Z wenig Leistungsbereitschaft zusprechen, sehen das so. Solche Vorwürfe gegenüber jüngeren Generationen gab es aber schon immer – zum Beispiel schon in der Antike. Verhaltensveränderungen sind aber weniger auf grundsätzlich veränderte Werte zurückzuführen, wie empirische und soziologische Studien zum Wertewandel seit vielen Jahrzehnten zeigen. Werte verändern sich vielmehr zum einem im Laufe des Lebens und zum anderen sind  die veränderten generellen Lebensumstände und wirtschaftlichen Möglichkeiten entscheidend. So hat sich der Arbeitsmarkt extrem verändert. Vor 30 Jahren hatten wir einen Arbeitgeber*innenmarkt. Es gab Arbeitslosigkeit und die Unternehmen konnten sich die Bewerber*innen aussuchen. Heute haben sich die Knappheitsverhältnisse zugunsten der Arbeitnehmer*nnen verschoben. Diese können jetzt viel eher die Bedingungen mitbestimmen, unter denen sie arbeiten möchten. So sind zum Beispiel Aspekte wie die Work-Life-Balance immer wichtiger geworden. Das war bei älteren Generationen noch anders, sodass es hier mitunter an Verständnis fehlen kann. Stattdessen überwiegt die Sorge, dass die geringere Leistungs-, Karriere- und Arbeitsorientierung dazu führt, dass der bisherige Wachstumspfad nicht fortgeführt werden kann und die eigene Rente nicht mehr sicher ist.

Ist diese Sorge berechtigt?

Deutschland ist in den vergangenen Jahren im internationalen Vergleich zurückgefallen und leidet unter der Alterung der Gesellschaft und nachlassender Produktivität. Die Sorge, dass der Vorsprung weiter schrumpft und der Wohlstand perspektivisch nicht erhalten bleiben kann, ist also definitiv nicht unberechtigt. Insbesondere der Blick auf den demografischen Wandel und die Tatsache, dass es in Zukunft noch weniger Arbeitnehmer*innen geben wird und wir heute schon unter Fachkräfteengpässen in vielen Bereichen leiden, verschärft die Sorgen.

Also braucht es mehr Wachstum und damit auch wieder mehr Arbeitsstunden?

Das hängt davon ab, in welcher Gesellschaft wir leben wollen und womit wir zufrieden sind. Brauchen wir mehr Wachstum, um den Wohlstand zu erhalten oder sollten wir lernen, mit weniger zu leben? Das sind ja sehr präsente Debatten, die insbesondere auch von jüngeren Generationen angestoßen werden. Viele Menschen möchten aber ihren erarbeiteten Wohlstand sichern und haben Verlustängste. Wenn dieser Wohlstand gesichert werden soll, dann müssen wir das kollektive Arbeitspensum tatsächlich steigern, um mit Blick auf den demografischen Wandel die Arbeitsleistung der Babyboomer langfristig zu ersetzen, da der Produktivitätszuwachs dafür nicht ausreichen dürfte – auch wenn die Künstliche Intelligenz für größeren Zuwachs sorgen könnte. Arbeitszeitpotenziale liegen zum Beispiel bei Menschen, die in Teilzeit tätig sind, und eigentlich länger arbeiten möchten. Arbeitszeit und -ort flexibler zu handhaben und bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch mehr Betreuungsangebote sind wichtige Hilfen, das zu realisieren. Oder die Babyboomer arbeiten freiwillig noch länger – als sogenannte Silver Worker. Am Ende bleibt das Dilemma zwischen individuellen Wünschen nach weniger Arbeitszeit und der kollektiven Notwendigkeit, die Arbeitskräftelücke zu schließen. Bis zum Jahr 2030 summiert sich diese demografische Lücke auf fünf Millionen Menschen und damit auf mehr als zehn Prozent der Erwerbstätigen in Deutschland!

März 2024

Marcel Hönighausen

Team Presse und Öffentlichkeitsarbeit


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