Barrierefrei studieren: Christoph Winterberg
Eine wichtige Eigenschaft braucht man als Rollstuhlfahrer: Geduld. Um sich nicht über die täglichen Zeitfresser zu ärgern.
Was andere Menschen im Vorbeigehen erledigen, ist für Christoph Winterberg (24) ein nervender Akt, wenn er keinen barrierefreien Zugang hat: Dann hält ihn eine hohe Bordsteinkanten vom Kioskbesuch oder vom Brötchenkauf ab und er muss Passanten um Hilfe bitten. Treppensteigen statt Aufzug oder Rampe? Nicht nur aus sportlicher Sicht eine Herausforderung. Christoph studiert im Bachelor Soziale Arbeit. In einem Seminar zum Thema Armutsdimensionen hat er zusammen mit vier Kommilitonen den Alltag eines Rollstuhlfahrers in seiner oft feindlichen Umgebung festgehalten. „Alltag oder Hürdenlauf“ heißt der Film und plädiert für ein selbstbestimmteres Leben.
30 Minuten für den Fahrstuhl
Als der Film im Seminar besprochen wurde, waren die Reaktionen der anderen „schockiert“, sagt Christoph. Weil er sich zum Beispiel in quälend langen Einstellungen Stufe für Stufe die Treppe runterhiefen und gleichzeitig seinen Rollstuhl nachziehen muss. Die morgendliche Szene ist inszeniert, das gibt er zu. Natürlich muss er in seinem Zuhause so nicht die Treppe bewältigen. Aber im Alltag erlebt er solche Situationen immer wieder: Im Supermarkt kann er die oberen Regale nicht erreichen. Und auch an der Hochschule findet sich noch manches Hindernis. Dort kann er zum Beispiel nicht selbstständig den Behindertenfahrstuhl zur Bibliothek benutzen – sondern muss erst einmal klingeln und ihn freischalten lassen. Angekommen im Fahrstuhl fehlt dort die Bedienung; das gewünschte Stockwerk kann er also nicht selber anwählen. „Das ist einfach krass: wer konstruiert so etwas?“ Christoph kann nur den Kopf schütteln. Selbstständig ist anders.
In seiner Kindheit wurde um seine Behinderung kein Aufheben gemacht. Weder bei seinen Eltern, noch in der Schule und bei seinen Freunden. Durch eine Komplikation im Geburtskanal kam er querschnittgelähmt zur Welt – knieabwärts spürt er seine Beine nicht. Er ist nie wie ein rohes Ei behandelt worden, ein großes Glück, wie er findet. Statt Helikopter-Eltern wurde er unverkrampft erzogen und musste keine Förderschule besuchen. Benachteiligt und diskriminiert hat er sich in der Grundschule und auf der Realschule nicht gefühlt – sondern normal behandelt wie die anderen auch: das heißt, er teilte aus und steckte ein wie seine nicht-behinderten Freunde auch.
„Da war schon viel schwarzer Humor über alles und jeden, natürlich auch über meinen Rollstuhl. Aber der gehört zu einem gesunden Umgang mit körperlichen Behinderungen. So haben wir gelernt, unbefangen damit umzugehen.“
Operation ist keine Option
Christoph ist vielbeschäftigt. Er spielt seit 15 Jahren Sitzeishockey. Sein Verein ist der TUS Wiehl, als Verteidiger hat er es bis in die Nationalmannschaft und in das Olympiateam geschafft. Leider wurde es nichts mit der Teilnahme in Socchi. Außerdem unterstützt Christoph ehrenamtlich Kinder und Jugendliche beim KJG. Eine Arbeit, die er sich auch als Beruf vorstellen kann.
Mittlerweile kann man in den USA durch neue operative Verfahren künstliche Nerven einsetzen: sie sollen die Querschnittslähmung wieder rückgängig machen. Christoph hat sich die Möglichkeit durch den Kopf gehen lassen, und sich dagegen entschieden: „Da fängt man komplett bei null an und muss wie ein Kleinkind das Gehen lernen. Ich glaube, dadurch verändert man sich auch vom Typ her.“ Dabei sollte man meinen, dass ein Querschnittgelähmter sich nichts sehnlicher wünscht, als gehen zu können. Oder ist das die typische Perspektive der Gehenden? „Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, zu laufen.“ Viel lieber will er seinen Umgang mit der Lähmung an andere körperlich Behinderte weitergeben. „Nicht alle können so gut mit ihrer Behinderung umgehen, sie lassen sich hängen und leben sehr zurückgezogen.“ Viele würden den Aufwand scheuen, den eine wenig barrierefreie Umwelt bietet. Christoph kann das nachvollziehen, denn nicht sein Rollstuhl ist für ihn das Problem, sondern der an behinderten Menschen vorbeigeplante öffentliche Raum.
Monika Probst
Dezember 2014