GTA und der moderne Flaneur

Was hat Walter Benjamin mit Computerspielen zu tun? Ziemlich viel, wenn man beispielsweise Grand Theft Auto medienwissenschaftlich untersucht. Curtis Maughan hat für seine Promotion Benjamins kulturwissenschaftliche Theorie des Flaneurs in Open-World-Games wiederentdeckt und sieht darin produktive Ansätze für die Spieleentwicklung.

Curtis Maughan Curtis Maughan (Bild: CGL)

Open-World-Spiele wie Grand Theft Auto (GTA) bieten den Spielerinnen und Spielern große Freiheitsräume. Das macht sie so populär. Es gibt keine festgeschriebenen, linearen Handlungen, denen sie ganz genau folgen müssen. Keine Levels, die abzuarbeiten sind, um zu einem Ziel zu gelangen. Das ist das grundlegende Konzept der „offenen Welt“: Die Spieler entscheiden selbst, was sie wann und wie machen wollen. Statt kompetitiv zu agieren und einer Mission zu folgen, kann man auch einfach nur eine fiktive Welt erkunden. Im Fall von GTA kann man beispielsweise durch die verschiedenen Stadtviertel spazieren, Musik hören, Filme anschauen, Szenerien fotografieren und einen eigenen Blog führen und veröffentlichen. Oder, so die primäre Idee, sich in wilde Verfolgungsjagden und Straßenschießereien stürzen.

Die Beliebtheit der selbstbestimmten Spielgestaltung mit einer Fülle von Handlungsoptionen macht Open-World-Spiele zu äußerst lukrativen Produkten für Spielefirmen. Da geht die Reise hin, ist sich auch Curtis Maughan vom Cologne Game Lab (CGL) sicher. Jenseits der hohen Freiheitsgrade sieht der Literatur- und Medienwissenschaftler aber noch einen anderen Aspekt in Open-World-Games: Die Rückkehr des Flaneurs. Nicht nur in dem Sinne eines Schaufensterbummels durch Einkaufsstraßen, sondern eher in der Definition des Philosophen und Kulturkritikers Walter Benjamin. Der hatte in den 1920er und 1930er Jahren das Konzept des Flaneurs eingeführt (und dabei die Begrifflichkeit aufgenommen vom französischen Schriftsteller Charles Baudelaire). In seinem Essay „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ erhob Benjamin das Medium Film zur Kunstform seiner Zeit. Film mobilisiere die moderne Massen beim kinematografischen Flanieren die virtuellen Leinwandwelten zu erkunden. Er könne den Massen am besten Zerstreuung bieten. Darüber hinaus, so seine These, würde das Medium Film auch die Perspektive auf die realen Räume der urbanen Moderne ausrichten.

Games als Mischung aus Architektur und Film

„Walter Benjamin war nur einen Schritt entfernt von dem, was wir gerade tun: So ziemlich jeder Spieleentwickler und Medienwissenschaftler erlebt Games als eine Mischung aus Architektur und Film. Ich finde es deshalb so erstaunlich, dass Benjamin bisher in der Spieletheorie kaum Beachtung gefunden hat“, so Maughan. Grund für den US-Amerikaner, sich in seiner Doktorarbeit Benjamins Flaneur-Konzept und dessen Auswirkungen auf das digitale Zeitalter zu widmen.

Benjamins Flaneur nutzt die anonyme Masse auf der Straße, um so das soziale Geschehen in einer Metropole zu beobachten. Aus der städtischen Architektur zieht er soziokulturelle Bezüge. Dabei geht er eine symbiotische Beziehung zur Stadt ein. Der Flaneur macht sich die Straße zwar zu Eigen, zu seinem privaten Raum, hält aber Distanz zu den anderen. Er bewegt sich langsam, fast schon entschleunigt, um ein Gefühl für Raum und Atmosphäre zu bekommen. In einer Art „ziellosen, spontanen Herumwanderns hält er den Augenblick fest“, so Maughan. Diese Art der Dokumentation werde bei der Kameraführung in Filmen aufgegriffen, und bestimme auch die Darstellung in Open World Games wie GTA 5 oder Watch_Dogs 2, den beiden Spielserien, die Gegenstand seiner Untersuchungen sind. Die Filmkamera hat unsere kognitiven Sehgewohnheiten geändert und ist Teil unseres Alltags geworden. Das würde sich auch im Design digitaler Stadtlandschaften und Avatare widerspiegeln. Dabei würde oft erst die Stadt designt, dann die Handlung und zuletzt die Avatare, so Maughan.

Je offener die Welten, umso länger spielt man

Dass die Spiele überwiegend in einer urbanen Welt stattfinden, hat den Vorteil, komplizierte Netzwerke aus Stadtlandschaften, Charakteren und Handlungsoptionen entwickeln zu können. „Je offener und vielschichtiger diese Welten gestaltet sind, umso mehr kann man sich in ihnen verlieren“, sagt Maughan. Damit meint er aber nicht nur das merkantile Kalkül einer langen Verweildauer in der digitalen Welt, die von Spieleentwicklern durchaus gewollt ist, sondern auch den künstlerisch-kreativen Effekt für Entwickler: „Durch die unkalkulierbaren Handlungsmöglichkeiten können Gamer mit dem, was sie tun, die Entwickler auch überraschen. Daraus lassen sich neue Ideen generieren.“

Vor kurzem hat Maughan einen dreitägigen Game Jam mit CGL-Studierenden zum Thema Flanieren geleitet. Benjamins Konzepte seien auch sehr produktiv bei der Spielentwicklung, so seine Erkenntnis. „Ich bin den Co-Direktoren Gundolf Freyermuth und Björn Bartholdy sehr dankbar, dass sie mir die Chance gegeben haben, meine theoretische Forschung in die praktisch-kreative Sphäre des Instituts einzubringen. Und dass so viele wirklich talentierte Studierende mitgemacht haben.“ Denn die Kombination aus Flaneur und Metropole bieten verschiedene Themen an: Beispielsweise Game-Touristik, also Spiele, in der Spielerinnen und Spieler die digitale Nachbildung realer Städte ohne Einschränkungen explorieren können. Oder der Flaneur agiert als Detektiv, wie in den Erzählungen von Edgar Allen Poe. Oder das Thema Überwachung, in der die Stadt die Autorität darstellt und der Flaneur zum Objekt der Beobachtung durch die Masse wird.

Walking-Simulators als Konterpart

Interessant als Ausdruck kontemplativer Entschleunigung sind auch sogenannte Walking-Simulators, in denen Spielerinnen und Spieler durch ländliche, verlassene Landschaften wandern, ohne auf andere Charaktere zu treffen. „Dadurch unterscheidet sich der Akt des Herumwanderns in den Walking-Simulators allerdings auch stark vom Flanieren."

Im Frühling wird Curtis Maughan seine Doktorarbeit abschließen, die letzten Kapitel schreibt er an der Vanderbilt University in Nashville, Tennessee. Anschließend würde er am liebsten seine Forschung bei CGL fortsetzen – und vielleicht werden sich hier auch Benjamins medientheoretische Ideen noch einmal wiederfinden.

Curtis Maughan promoviert in einem kooperativen Verfahren mit der Vanderbilt University, USA, an der TH Köln und wird dabei betreut von Prof. Dr. Lutz Koepnick (Doktorvater, Vanderbilt University) und Prof. Dr. Gundolf Freyermuth (CGL).

Januar 2019

M
M