Familienbildung in Nordrhein-Westfalen

Prof. Dr. Ute Müller-Giebeler, Michaela Zufacher und Thorsten Eggers vom Forschungsschwerpunkt Nonformale Bildung an der Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften haben gemeinsam mit der Prognos AG im Auftrag des Ministeriums für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen die familienpolitischen Leistungen in NRW untersucht.

Im Interview sprechen Ute Müller-Giebeler und Michaela Zufacher über die Bedeutung der Familienbildung und darüber, wie es um die Angebote steht.

Porträt Ute Müller-Giebeler und Michaela Zufacher Prof. Dr. Ute Müller-Giebeler (li.) und Michaela Zufacher (Bild: Thilo Schmülgen/TH Köln, privat)

Was sind familienpolitische Leistungen?

Müller-Giebeler: Es gibt zwei Sorten von familienpolitischen Leistungen: Zum einen gibt es die materiellen, wie die direkten Geldleistungen sowie die steuerlichen und sozialversicherungsrechtlichen Maßnahmen, die Familien und Eltern zugutekommen. Zum anderen sind es Strukturleistungen. Also Strukturen, die Bund, Länder und Kommunen für Eltern und Familien bereitstellen. Dazu gehören Einrichtungen der Familienbildung und der Familienberatung sowie die Leitstellen der Familienpflegedienste. Diese drei Strukturbereiche waren Gegenstände der Evaluation durch das Land. Wir von der TH Köln haben mit Prognos den Bereich der Familienbildung evaluiert. 

Was meint Familienbildung?

Müller-Giebeler: Familienbildung meint in NRW diejenigen Institutionen, die zum einen über das Weiterbildungsgesetz des Landes gefördert werden und zum anderen durch den §16 des SGBVIII (Sozialgesetzbuch) in die Kinder- und Jugendhilfe eingebunden sind: Die Einrichtungen der Familienbildung bzw. die Familienbildungsstätten. Diese sind historisch aus den Mütterschulen gewachsen, deren erste in Deutschland 1917 gegründet wurde. Diese haben sich als Bildungseinrichtungen für Mütter verstanden. Im Zuge der Frauenbewegung und der Veränderung des Familienbildes in den 70er Jahren änderte sich auch das Selbstverständnis der Einrichtungen und sie benannten sich um – in „Familienbildungsstätten“. Diese bieten ein breites Bildungsangebot zu allen das Familienleben betreffenden Fragen und nach §16 SGBVIII widmen sie sich der allgemeinen Förderung der Erziehung in der Familie. Etwa 120 Einrichtungen gibt es heute in NRW.

Mit welchen Themen beschäftigen sich die Einrichtungen?

Müller-Giebeler: Die Familienbildung ist thematisch breit aufgestellt und begleitet Menschen durch alle Lebensphasen – von Geburtsvorbereitungskursen bis hin zu Veranstaltungen zum Umgang mit der Pflege der eigenen Eltern oder mit Trauer um Familienangehörige. Auch spezifische Herausforderungen und besondere Lebenssituationen werden mit verschiedenen Formaten adressiert, beispielsweise durch Angebote für Alleinerziehende oder Hilfen zur Bewältigung von Arbeitslosigkeit der Familienernährerin oder des Familienernährers.

Was sind die Ergebnisse der Evaluation?

Müller-Giebeler: Ein wichtiges und positives Ergebnis der Evaluation ist, dass die Familienbildung in NRW bereits sehr bekannt ist. 77 Prozent der Eltern kennen die Familienbildung in NRW. Ein weiteres positives Ergebnis ist, dass die Nutzer*innen der Familienbildung in NRW mit deren Angeboten außerordentlich zufrieden sind und als sehr nützlich und hilfreich für sich bewerten.

Welche Herausforderungen gibt es?

Müller-Giebeler: Da haben sich vor allem zwei Probleme herauskristallisiert: Erstens existiert eine strukturelle Unterfinanzierung der Familienbildung und die derzeitige starre Finanzierungsstruktur über das Weiterbildungsgesetz schränkt – trotz der Erleichterungen diesbezüglich, die die verschiedenen Ergänzungsförderungen durch das Ministeriums für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration fraglos bringen – die Vielfalt, Flexibilität und Innovativität von Angeboten ein. Zweitens ist es die Personalsituation; der traditionelle Pool weiblicher, nebenfamiliärer Honorarmitarbeiterinnen bricht weg. Der familiäre Wandel hat dazu geführt, dass pädagogisch qualifizierte Frauen früher nach einer Geburt wieder in Festanstellung gehen und seltener für Honorartätigkeiten in der Familienbildung zur Verfügung stehen. Die Familienbildung befindet sich hier in einer Umbruchssituation, man kann von einer Krise sprechen. Wenn Familienbildung ihrer wachsenden Bedeutung für die Unterstützung von Familien in Zukunft gerecht werden soll, müssen ihre Strukturen abgesichert und Festanstellungen in der Familienbildung ermöglicht werden.

Ihr Schwerpunkt beim Projekt lag bei guten Praxisbeispielen. Welche Kriterien spielten eine Rolle?

Zufacher: Wir haben auf der Basis der bereits vorliegenden Ergebnisse aus der Gesamtevaluation und des wissenschaftlichen Diskurses fünf Kriterien bestimmt, die gute Praxis ausmachen. Das sind Digitalisierung, Väterarbeit, interkulturelle/inklusive Arbeit, niederschwellige und sozialraumorientierte Angebote. Diese Aspekte haben wir als Filter über alle Einrichtungen in NRW gelegt.

Müller-Giebeler: Niedrigschwelligkeit bedeutet zum Beispiel, um das herauszugreifen: Familienbildung steht vor der Herausforderung, bildungsbenachteiligte Familien, Familien in sozial benachteiligten Lebenslagen und Familien mit Migrationshintergrund zu erreichen. Diese Familien stehen oft vor Schwellen, traditionelle Kursangebote der Familienbildung in sogenannten „Komm-Strukturen“ wahrzunehmen. Deswegen ist es wichtig, zum Beispiel offene Angebote zu machen, die kostenlos, ohne Anmeldung und z.B. auch ohne Hinterlegen des Namens angeboten werden. Hier werden Familien in einem informellen Konzept willkommen geheißen und sie können wahrnehmen, dass sie anerkannt werden wie sie sind.

Zufacher: Die fünf Fallbeispiele der guten Praxis leisten in Bezug auf die fünf Kriterien gute bis sehr gute Arbeit; es sind das Familienbildungswerk des Deutschen Roten Kreuzes in Duisburg, das katholische FamilienForum Köln, die Familienbildungsstätte der AWO in Hemer-Iserlohn sowie Lüdenscheid, das evangelische Paul-Gerhard-Haus in Dorsten und die Hedwig Dornbusch-Schule e.V. im DPWV in Bielefeld im Paritätischen Wohlfahrtsverband. Der Begriff „Gute Praxis“ bedeutet aber, dass diese Einrichtung nicht isolierte „best practice“ sind, sondern exemplarisch für viele Einrichtungen guter Praxis in NRW stehen.

Was macht gelingende Familienbildung möglich?

Zufacher: Vernetzung, Beziehung und Engagement sind Gelingensfaktoren. Gute Familienbildung ist vernetzt und hat eine hohe Kultur der Beziehungspflege, sowohl zu den Mitarbeitenden als auch zu den Adressatinnen und Adressaten. Familienbildner*innen sind idealistisch motiviert und leisten viel Arbeit über die bezahlte hinaus; das ist ein bedeutendes Merkmal von Care- und Bildungsarbeit in sogenannten Frauenberufen. Das Personal der Familienbildung setzt sich multiprofessionell zusammen: Lehrkräfte, pädagogische Fachkräfte, Jurist*innen, Ernährungsberater*innen und Medienpädagog*innen arbeiten in der Familienbildung und ermöglichen ein breites Themenspektrum für viele Zielgruppen. Zur Professionalisierung der Familienbildung trägt die Möglichkeit eines Bachelorabschlusses im Studiengang Kindheitspädagogik und Familienbildung an der TH Köln bei. Die TH Köln und die Hochschule Düsseldorf sind die bundesweit einzigen Hochschulen, die solche Studiengänge anbieten. Die Professur für Familienbildung, die zur Zeit Prof. Dr. Müller-Giebeler innehat, ist ein Alleinstellungsmerkmal der TH Köln.

Juni 2021

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