architectural tuesday: Bauen im ländlichen Raum

Die Zukunft scheint den Städten zu gehören – kreisen die Diskussionen doch vor allem um die Ballungsgebiete, wenn es um die Frage geht: Wie wollen wir künftig leben? Der ländliche Raum bleibt dabei oft außen vor. Die Fakultät für Architektur widmet ihre Vortragsreihe architectural tuesday im Wintersemester 2022/23 daher dem Bauen in diesen Regionen. Ein Gespräch mit Kurator Prof. Paul Böhm.

Prof. Böhm, vor welchen Herausforderungen steht der ländliche Raum?

Dem ländlichen Raum, den kleineren und größeren Ortschaften genauso wie den Landschaften, drohen zunehmend ein verheerender Gesichtsverlust. Weil angeblich alles überall möglich ist, droht der Niedergang von Charakter und Identität. Es werden „Schwarzwaldhäuser“ in der Eifel genauso vorgefunden wie „norddeutsche Katen“ im Bergischen Land. Flachdächer oder auch Dächer mit X-beliebigen Formen und Neigungen werden hemmungslos und gedankenlos in die Landschaft gepflastert.

Prof. Paul Böhm Prof. Paul Böhm (Bild: Michael Bause/TH Köln)

Welchen Beitrag leistet die Architektur zur Bewältigung dieser Herausforderungen?

Es bedarf eines intensiven Studiums des Charakters und der Eigenheiten eines jeden Ortes und der Landschaft, bevor man als Architekt*in (und Bauherr*in) einen Eingriff vornimmt. Es geht nicht um historisierende Nachbauten. Aber jedes neue Gebäude sollte den Ort ergänzen, bereichern und erweitern – mit dem Wissen um die gewachsenen Strukturen, ihre Ursprünge und Begründungen. Daraus sollte man dann etwas Zeitgenössisches entwickeln, das auf die Tradition eingeht und auf dieser aufbaut.

Warum haben Sie Vorarlberg als Beispiel für die Vortragsreihe ausgewählt?

Ich glaube, dass Vorarlberg ganz interessante Ansätze aufzuweisen hat, wie man dem Charakter eines Ortes nachspüren und ihn aufnehmen kann und dennoch zeitgenössisch baut. Andere Beispielfelder wären Graubünden, das Tessin oder andere Regionen gewesen. Uns kam es aber auch darauf an, nicht zu „Alpenländisch“ zu sein und eine Region zu wählen, die beispielgebend für das Rheinland sein kann.

Auf Traditionelles zurückzugreifen und daraus Neues zu entwickeln – wie vermittelt die Fakultät ihren Studierenden diese Fähigkeit?

Wir greifen in unseren Vorlesungen und Übungen diesen Themenkomplex immer wieder auf. Unsere Studierenden sollen sich fragen: Wie kann ich dem Entwurf eines Gebäudes in einer spezifischen Umgebung seine Beliebigkeit nehmen? Es gibt natürlich viele Gründe, warum ein Entwurf eine bestimmte Struktur einnimmt. Nutzungsart, Erschließung, Belichtung oder Himmelsrichtung haben einen starken Einfluss auf das äußere Erscheinungsbild. Wenn man nur die betrachtet, können daraus Bauten mit höchst unterschiedlichem Charakteren resultieren, die sich wahllos aneinanderreihen und sich nicht aufeinander beziehen. Es entstehen Orte ohne eigenen Charakter, den wir überall auf der Welt vorfinden könnten.

Wenn aber unsere Studierenden den Ort und seine Geschichte mit berücksichtigen, schränkt dies die Variablen und die Beliebigkeit der Möglichkeiten ein. So wird am Ende aus der Vielzahl der einzelnen Bauten ein Ganzes. Das braucht und sollte nicht zur Uniformität, aber zu etwas Gemeinsamen führen. Da sehen wir und unsere Studierenden: Architektur ist politisch und gesellschaftsrelevant. Es geht immer um das Gemeinsame in der Individualität.

November 2022

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