Verschwindende Vielfalt

Prof. Dr. Stefan Sporn (Bild: Zena Bala)

Die „Transformation“ von linear zu non-linear und die Gefahr für die Meinungsbildung

07.06.2021

Prof. Dr. Stefan Sporn, Honorar-Professor der TH Köln und Vorsitzender des Beirats der Kölner Forschungsstelle für Medienrecht*

Ob man im Leben bestimmte Dinge wirklich braucht, weiß man leider immer erst dann, wenn sie weg sind – meist unwiederbringlich. Im Zeitungsmarkt sind in den vergangenen Jahren viele Zeitungen bzw. ihre überregionalen Mäntel verschwunden. Fehlen sie? Daneben hat jetzt ein weiterer unumkehrbarer Prozess des medialen Verschwindens eingesetzt: Der des Verschwindens von linearem Fernsehen. Sowohl die Kabel-/IP-Netzbetreiber als Verbreiter als auch die Veranstalter selbst schalten Sender ab. In Deutschland hat einer der größten Netzbetreiber jüngst mitgeteilt, eine ganze Reihe von TV-Sendern nicht mehr weiterzuverbreiten. Der Disney-Konzern hat angekündigt, weltweit verschiedene seiner Sender einzustellen. Nur zwei Beispiele. Diese Entwicklung wird sich fortsetzen. Damit hat auch sie absehbar zunehmend sichtbare Auswirkungen auf das, was gesellschafts- und demokratiepolitisch von höchster Relevanz ist: Der Angebotsvielfalt als Grundlage für die individuelle und kollektive Meinungsbildung. Die Angebotsvielfalt beim klassischen TV wird vom Bundesverfassungsgericht immer noch als besonders relevant angesehen.

Die Entscheidungen der Plattformen und der Medienunternehmen folgen offiziell dem sich ändernden Nutzungsverhalten der Menschen: Sie schauen nicht mehr in dem Umfang wie früher das klassische lineare Fernsehen, sondern zunehmend VOD-Angebote oder die Mediatheken der Medienhäuser mit ihren non-linearen Angeboten. Tatsächlich ist das nur – wenn überhaupt – die halbe Wahrheit. Es stimmt, dass in vielen Zielgruppen zunehmend weniger lineares TV gesehen wird, aber dennoch ist die Nutzung weiterhin stark und tatsächlich sinkt sie nicht gleichermaßen wie die der non-linearen Angebote steigt. Damit ist klar: Beide Angebotsformen sind eher komplementär. Und das lineare TV hat nach wie vor Relevanz. Tatsächlich folgen die Entscheidungen zur Verringerung der linearen Angebote vor allem einer kommerziellen Logik: Den Netzbetreibern ist die Vielzahl der Sender längst ein Dorn im Auge, weil sie mit ihnen nicht genug verdienen und sie oft Bandbreite besetzen, die für einträglichere Geschäfte genutzt werden könnte.

Bisher ist diese Entwicklung des Verschwindens von Angeboten kaum wahrgenommen und kritisch benannt worden. Es ist wie mit Eltern und dem Wachsen der eigenen Kinder; die Veränderungen werden ihnen erst dann bewusst, wenn sie darauf hingewiesen werden oder sie richtig groß sind, quasi der Auszug bevorsteht. Das Verschwinden des Fernsehens ist ein schleichender Prozess; und genau das macht ihn auch so gefährlich. Die verschwundenen Angebote wird es nie wieder geben. Das beschwichtigende Argument hier ist regelmäßig: Es handele sich ja nur um Nischenangebote, und im Übrigen könne man die Inhalte ja weiterhin non-linear in den VOD-Plattformen der Plattformen etc. sehen. Sicher mag man vielen (Pay-) Spartenkanälen eine nur untergeordnete Rolle für die Meinungsbildung zumessen; aber in Summe? Es ist vermutlich nur eine Frage der Zeit, bis auch größere Free-TV-Sender abgeschaltet und – so wird die Kommunikation darüber euphemistisch formulieren – ins Non-Lineare „transformiert“ werden. Es wird aber keine Transformation sein. Die noch existierende lineare Vielfalt wird zukünftig nicht einfach in der non-linearen Welt gespiegelt. Hauptgrund hierfür sind die Geschäftsmodelle: Ehemalige TV-Angebote verschwinden hinter einer Pay-Schranke und sind nur für Abonnenten zugänglich, und non-linear wird für die Inhalte von den Plattformen an die Rechteinhaber schlicht nicht so viel bezahlt wie für lineare Angebote. Damit wird vielen Anbietern auch die finanzielle Grundlage entzogen oder massiv eingeschränkt. Die Folge? Weniger Angebot, weniger Vielfalt.

Rechtlich ist das alles nicht zu beanstanden. Es gibt keine Regulierung, die hier greift. Die Entwicklung ist nicht vom Gesetzgeber vorhergesehen oder als regelungsbedürftig angesehen worden. Die Folgen dieser verschwindenden Vielfalt für die individuelle und kollektive Meinungsbildung sind derzeit schwer absehbar. Aber wenn der Gesellschaft die Basis dieser Meinungsbildung – die Angebotsvielfalt – wirklich wichtig ist, dann ist möglicherweise für die Regulierung der schönen neuen non-linearen Welt Handlungsbedarf.

*Der Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Meinung des Autoren wieder.

Juni 2021


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