Abhilfe gegen das Abdriften

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Was tun, wenn Verwandte oder Freunde zu Verschwörungstheoretikern mutieren? Buchbesprechung: „True Facts“, von Pia Lamberty und Katharina Nocun

05.07.2021

Hans Demmel, Journalist und Medienberater sowie Mitglied des Beirats der Kölner Forschungsstelle für Medienrecht

Ende Juni landet in meinem Account ein Tweet einer Organisation namens „impfen-nein-danke.de“. Es ist eine wilde Spekulation darüber, dass „die CDC (..) 150.000 Impftote aus der VAERS-Meldedatenbank gelöscht“ habe. Sie kommt zu diesem Schluss, da „die Dunkelziffer in USA und EU bei fast 100 Prozent liegt, kann man überall noch zwei Nullen dranhängen“. Aus dieser Rechnung ergeben sich für den oder die Autoren des Tweets dann 15 Millionen Impftote in nur einem halben Jahr. „Und dazu kommen noch Millionen Behinderte, Arbeitsunfähige und die noch unbekannte Zahl der Langzeittoten.“ Mir ist auf den ersten Blick nicht klar, wer oder was die CDC oder die VAERS-Datenbank sind, aber bei den Zahlen und spätestens beim Wort „Langzeittote“ muss jedem klar sein, dass dieser Text, man kann es kaum anders formulieren, völliger Schwachsinn ist. Weitergeleitet wurde er übrigens von einem gewissen Michael Wendler.

Doch was, wenn Menschen, die man über Jahrzehnte kennt, Ken Jebsen, dem wohl bekanntesten Verschwörungserzähler Deutschlands auf Telegram folgen und dessen reihenweise widerlegten „Fakten“ glauben und weiterverbreiten? Was tun, wenn einem der bisher so nette Nachbar erklärt, wir würden alle an der Anti-Covid-Impfung sterben, und das noch in diesem Jahr? Was, wenn jemand aus der Verwandtschaft erklärt, „the great reset“, die Neuordnung der Welt durch geheime Organisationen stünde bevor.

Abhilfe verspricht ein schmaler Band namens True Facts. Die beiden Autorinnen Katharina Nocun und Pia Lamberty befassen sich seit Jahren mit Verschwörungserzählungen und haben 2020 mit „Fake Facts“ ein beeindruckendes Werk zum Thema vorgelegt. An dieser Stelle ein Wort zum gängigem Begriff Verschwörungstheorie. Eine „Theorie“ setzt wissenschaftliche Überprüfbarkeit und gegebenenfalls Widerlegung voraus. Bei dem, was wir im allgemeinen Sprachgebrauch als Verschwörungs-“Theorie“ bezeichnen, handelt es sich genau genommen eher um Mythen oder Erzählungen.

„True Facts“ ist gedacht als Handreichung für das Gespräch mit Menschen, deren Weltbild vernagelt ist, die Bill Gates für den Erfinder des Virus und Pandemie-Opfer im Fernsehen für bezahlte Schauspieler halten.

Die schlechte Nachricht zuerst: Es gibt keinen „simplen Zehn-Punkte-Plan, wie man Verschwörungsgläubige schnell und unkompliziert aus dem Kaninchenbau ihres geschlossenen Weltbilds herausholen kann.“ Es ist, dieser Wahrheit muss sich der Leser stellen, ein steiler und steiniger Weg für jeden, der Anhänger von Verschwörungstheorien in die reale Welt zurückholen will. Viele der Empfehlungen, und das soll hier nicht abwertend gemeint sein, stammen aus dem klassischen Repertoire überzeugender Gesprächsführung. Zuhören, nicht schon im ersten Satz die Konfrontation zu suchen, versuchen, sich in die Situation des gegenüber einzufinden, sachlich und ruhig zu argumentieren, nicht mit hochrotem Kopf laut werden.

Es sind, den Autorinnen zufolge, drei grundlegende menschliche Bedürfnisse, die der Glaube an Verschwörungen bedienen kann. Der Wunsch nach Kontrolle und Sicherheit, der Wunsch die Welt um uns herum zu verstehen, und drittens der Wunsch, positiv wahrgenommen zu werden, sich zu unterscheiden, sich mit „Wissen“ zu profilieren. „Der Glaube daran, als einer der wenigen ‚Auserwählten‘ geheimen Machenschaften auf der Spur zu sein, kann eine große Anziehungskraft entfalten“, stellen Lamberty und Nocun fest.

Sie empfehlen, möglichst frühzeitig zu reagieren, denn der „Glaube an eine einzelne Verschwörungserzählung kann dazu führen, dass über die Zeit hinweg weitere, womöglich drastischere Behauptungen für plausibel gehalten werden.“ Davor jedoch sollte eine gründliche Analyse der Ausgangssituation stehen. Abzuwarten ist, ihrer Empfehlung nach, eine riskante Strategie.

Wichtig ist zu versuchen, den Dialog als Dialog zu sehen und sich nicht von vornherein in einer direkte Abwehrhaltung zu verschanzen. Superharte Konfrontationen führen im Regelfall nur zu Verhärtungen. Der Versuch, abdriftende Mitbürger zu überzeugen, findet am besten im Vier-Augen-Gespräch statt. Auch hier gilt: Kein rabiates Vorpreschen.

Dennoch, rote Linien gibt es bei menschenfeindlichen Äußerungen, machen die Autorinnen ganz deutlich: „Viele Verschwörungserzählungen schüren außerdem Hass gegen Einzelpersonen oder Gruppen, bis hin zu offen rassistischen und antisemitischen Weltbildern. Da die Verbreitung solcher Mythen für die als ‚Feind’ oder „Verschwörer‘ markierten Menschen furchtbare Konsequenzen haben kann, sollte bei derartigen Äußerungen eine rote Linie gezogen werden.“

Ein erstes realistisches Ziel ist es, Zweifel zu säen. Die beiden Autorinnen empfehlen eine einfache Sprache, wenn möglich auch Infografiken oder Videos. Dazu: Nicht anklagen, sondern das sachliche Gespräch suchen. Am Ende sollte es „nicht darum gehen, als derjenige dazustehen, dem Recht gegeben wurde, vielmehr gilt es Brücken zu bauen.“

Von einem völligen Kontaktabbruch, eventuell gar als Drohung raten die Autorinnen ab: „Die Hoffnung, dass ein radikaler Kontaktabbruch wie eine Art Weckruf auf die betreffende Person wirken könnte, stellt sich oft als trügerisch heraus.“ Eine Reaktion, so die Autorinnen weiter, „egal, wie sie aussieht, ist daher meist besser als Schweigen, denn letzteres wird womöglich als Zustimmung gewertet.“

True Facts ist über diese Empfehlungen hinaus ein angenehm lesbarer Text über Verschwörungserzählungen, was sie sind und wie sie wirken. Wer sich stärker für das Thema interessiert, dem seien weiter folgende Titel empfohlen: „Einspruch“ von Ingrid Brodnig, „Verschwörungstheorien“ von Bernd Harder und „Nichts ist, wie es scheint“ von Michael Butter. Dazu gehört auch das regelmäßiges Verfolgen der Veröffentlichungen von Correctiv.

Juli 2021


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